Asset Publisher

Deutschland und die nukleare Realität

Asset Publisher

Seit der russische Präsident Wladimir Putin seinen Überfall auf die Ukraine mit nuklearen Drohungen untermalte, vollzieht sich die Diskussion über Sinn und Unsinn der militärischen Hilfe des Westens für die Ukraine im Schatten einer potenziellen nuklearen Eskalation. Entsprechend dramatisch fallen die öffentlichen Stellungnahmen aus. Bundeskanzler Olaf Scholz warnte vor den nuklearen Risiken, falls der Westen als Kriegspartei wahrgenommen werde. Manche deutschen Philosophen, Journalisten und Kabarettisten nahmen die Angst vor dem Nuklearkrieg zum Anlass, der Ukraine so etwas wie eine moralische Pflicht zur Kapitulation aufzuerlegen.1 Und wieder andere, vom Hochschulprofessor bis zum Spiegel-Redakteur, forderten sogar, Putins Drohungen durch die Anschaffung deutscher Atomwaffen zu neutralisieren.2

Die konfuse deutsche Debatte zeigt einmal mehr, dass es in Deutschland trotz der proklamierten „Zeitenwende“ nach wie vor an der intellektuellen Disziplin für einen aufgeklärten Diskurs über die Möglichkeiten und Grenzen nuklearer Abschreckung mangelt. Man denkt konventionell – im wahrsten Sinne des Wortes. Doch Deutschland kann sich keinen blinden Fleck mehr leisten. Die Diskussion um militärische Hilfe für die Ukraine, in der manche bereit waren, ihrer diffusen Angst vor einem nuklearen Inferno alles andere unterzuordnen und damit Präsident Putin in die Hände zu spielen, zeigt, dass zumindest die politische Klasse der Bundesrepublik zu nuklearen Fragen wieder sprechfähig werden muss. Die folgenden fünf Wegweiser sollen dazu beitragen. Erstens: Kernwaffen bleiben ein wichtiger Faktor der internationalen Politik. Russlands fast schon religiöse Verehrung seiner Nuklearwaffen und die regelmäßige Drohung mit deren Einsatz, aber auch der Aufwuchs der nuklearen Arsenale Chinas und Nordkoreas machen deutlich, dass die Abschaffung von Kernwaffen auf lange Zeit hinaus keine plausible Option ist. Daran hat auch die Verleihung des Friedensnobelpreises an die Nichtregierungsorganisation „Internationale Kampagne zur Abschaffung von Atomwaffen“ (International Campaign to Abolish Nuclear Weapons, ICAN) für ihr erfolgreiches Werben für einen Atomwaffen-Verbotsvertrag nichts geändert.

Wie schon einige Jahre zuvor, als der amerikanische Präsident Barack Obama diesen Preis für seine nukleare Abrüstungsagenda ebenfalls entgegennehmen durfte, zeichnete man weniger eine konkrete Leistung aus als vielmehr eine als moralisch korrekt empfundene politische Haltung. Obamas Vision einer nuklearwaffenfreien Welt scheiterte rasch an den politischen Realitäten. Und auch die hochfliegenden Pläne der Biden-Administration, die Rolle nuklearer Waffen in der amerikanischen Sicherheitspolitik zu verringern, mussten wieder begraben werden. Das Ziel einer kernwaffenfreien Welt bleibt auf der internationalen Agenda; allerdings muss der Schwerpunkt auf der Frage liegen, unter welchen Bedingungen eine solche Welt möglich wäre. Dann wird sehr schnell klar, dass diese Bedingungen auf absehbare Zeit nicht existieren. Deutschland wird also auch weiterhin in einer von Nuklearwaffen geprägten politischen Wirklichkeit leben müssen.

 

Keine „europäische nukleare Option“

 

Zweitens: Kernwaffen sind ein wichtiger Faktor der Kriegsverhinderung. Fragen nuklearer Abschreckung sind in gewisser Weise Glaubensfragen, weil es – glücklicherweise – kaum empirische Daten darüber gibt. Daraus jedoch zu schließen, das Fehlen empirischer Belege lasse jede beliebige Meinung zu, wäre grob fahrlässig. Zwar ist die Zahl der Studien, die den Nachweis erbringen wollen, dass es sich bei der nuklearen Abschreckung um einen Mythos handelt, in den vergangenen Jahren sprunghaft angestiegen, doch heiligt der politische Zweck oftmals die akademischen Mittel. Dies gilt für die aufgeführten Beispiele des „Versagens“ nuklearer Abschreckung ebenso wie für die zahlreichen angeblichen Atomkatastrophen, denen die Menschheit nur um Haaresbreite entgangen sei.3 Keine dieser Analysen hält einer strengen Prüfung stand.4 Vor allem aber vermögen sie nicht zu erklären, weshalb seit 1945 keine Nuklearwaffen mehr eingesetzt wurden.

Wie die zahlreichen konventionellen Kriege seit 1945 zeigen, verhindern Kernwaffen nicht jeden Konflikt. Aufgrund ihrer enormen Zerstörungswirkung sind sie nur in Fällen relevant, in denen es um existenzielle Interessen geht. Noch nie aber haben zwei nuklear bewaffnete Nationen oder Bündnisse Kernwaffen gegeneinander eingesetzt, was den Schluss erlaubt, dass der „Lange Frieden“ (John Lewis Gaddis) auch der Existenz von Atomwaffen zu verdanken ist.

Drittens: Es gibt auf absehbare Zeit keine „europäische nukleare Option“. Die Vorstellung, ein durch wirtschaftliche Krisen und populistische Versuchungen angeschlagenes Europa könne nun ausgerechnet die härteste Nuss einer gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik knacken, weil ein künftiger, isolationistisch geprägter amerikanischer Präsident seinen Verbündeten den nuklearen Schutz entziehen könnte oder die USA sich ganz auf China konzentrieren müssten, verkennt die aktuelle Lage mehrfach.

Zum einen gibt es in der Europäischen Union keinen nuklearen Konsens, sondern vielmehr einen massiven Dissens über die Legitimität nuklearer Abschreckung. Zum anderen steht das britische Atomwaffenarsenal seit dem „Brexit“ der Europäischen Union nicht mehr zur Verfügung. Und schließlich erscheint auch die – gerade im deutschen konservativen Spektrum immer wieder aufkeimende – Vorstellung, man könne unter den französischen Atomschirm schlüpfen, in dem man die französischen Nuklearstreitkräfte mitfinanziert, weit hergeholt. Frankreichs Nuklearwaffen haben durch ihre bloße Existenz einen gewissen Abschreckungswert, weil sie das Risikokalkül eines Gegners mit beeinflussen, aber sie sind klassische „Sanktuariumswaffen“. Sie schützen zuerst und vor allem Frankreich – das einzige NATO-Mitglied, das sich explizit gegen eine Mitgliedschaft in der Nuklearen Planungsgruppe des Bündnisses ausgesprochen hat. Und Paris hat nie einen Zweifel daran gelassen, dass die Entscheidung über den Einsatz französischer Kernwaffen eine rein nationale Entscheidung bleiben wird.

 

Schutzversprechen der USA

 

Viertens: Die USA bleiben die einzige nukleare Schutzmacht für Deutschland. Dieser Schutz wird im Rahmen der NATO organisiert und nirgendwo sonst. Einen nuklearen Konsens, der sich auch in Strategie, militärischen Fähigkeiten und Übungspraxis niederschlägt, gibt es nur in der NATO. Natürlich entscheidet auch im Bündniskontext einzig der amerikanische Präsident über den Einsatz von Nuklearwaffen. Aber die USA – und nur sie – haben den politischen Willen, die finanziellen Mittel und die militärischen Fähigkeiten, ihre internationale Ordnungsrolle durch glaubwürdige nukleare Schutzversprechen zu untermauern.

Diese Schutzversprechen sind zugleich ein wichtiges Instrument der nuklearen Nichtverbreitung, denn sie dämpfen Anreize der Verbündeten, sich selbst nuklear zu bewaffnen.5 Genau deshalb aber wird Amerika diese Rolle auch nicht aufgeben – nicht in Asien und auch nicht in Europa. Wer daher glaubt, man könne gleichsam im Vorgriff auf die ohnehin zu erwartende Aufkündigung der transatlantischen Schutzgemeinschaft durch ein sich antieuropäisch gebärdendes Washington schon einmal selbst die Kündigung einreichen, riskiert, alles zu verlieren, aber nichts zu gewinnen.

 

Nutznießer nuklearer Macht

 

Fünftens: Es gibt für Deutschland keinen nuklearen Sonderweg. Deutschland ist seit über sechzig Jahren Nutznießer nuklearer Macht. Als Mitglied der NATO nimmt die Bundesrepublik den nuklearen Schutz durch die USA in Anspruch. Mehr noch: Durch seine Rolle in der sogenannten nuklearen Teilhabe – die USA stellen die nuklearen Waffen, Deutschland die Trägerflugzeuge und Besatzungen – bringt Berlin den Willen zum Ausdruck, nukleare Pflichten und Risiken auch materiell mitzutragen. Darüber hinaus erlaubt die Teilhabe auch anderen Verbündeten die Mitwirkung an der nuklearen Mission, beispielsweise durch die Unterdrückung der gegnerischen Luftabwehr. Eine engere nukleare Zusammenarbeit ist zwischen souveränen Nationalstaaten kaum vorstellbar. Vor diesem Hintergrund ist die im Kontext der „Zeitenwende“ getroffene Entscheidung, die amerikanischen Kampfjets F-35 zu kaufen, um damit die nukleare Teilhabe auf Jahrzehnte hinaus zu sichern, von kaum zu unterschätzender Bedeutung – für Deutschland ebenso wie für seine künftige Rolle im Nordatlantikpakt. Denn dieses Bündnis wird, solange es Nuklearwaffen gibt, ein nukleares Bündnis bleiben.

Alternativen, wie sie von beiden Seiten des politischen Spektrums propagiert werden, sind für ein Land wie die Bundesrepublik nicht nur ungeeignet, sondern gefährlich. So ist der internationale Kernwaffenverbotsvertrag zwar inzwischen in Kraft getreten, doch da die Nuklearmächte und ihre Verbündeten den Vertrag nicht unterzeichnet haben, bleibt er ein rechtlich und politisch unbedeutender Torso. Dies umso mehr, als manche Formulierungen des Vertrags den Eindruck erwecken, es gehe in erster Linie darum, die nukleare Zusammenarbeit innerhalb der NATO zu delegitimieren.6 Deutschland hat sich daher aus guten Gründen nicht an den Vertragsverhandlungen beteiligt und wird sich lediglich als Beobachter engagieren.

 

Kein Alleingang Deutschlands

 

Die andere Alternative, ein deutscher nuklearer Alleingang, wäre dagegen der Super-GAU für Deutschlands Rolle im internationalen System. Auch wenn allenthalben gefordert wird, Deutschland möge mehr sicherheitspolitische Verantwortung übernehmen: Eine Nuklearmacht Deutschland ist damit definitiv nicht gemeint.

Im Gegenteil: Deutschland würde sich international isolieren. Deshalb wird es diesen Alleingang auch nicht geben. Und deshalb ist schon eine bloße Debatte darüber schädlich – ungeachtet des berechtigten Misstrauens gegenüber dem künftigen Kurs Russlands. Es ist kaum eine internationale politische Konstellation vorstellbar, in der eine Diskussion über eine nationale deutsche nukleare Option nicht mehr Probleme schafft, als sie löst.7

 

Vertrauensvolle Zusammenarbeit

 

Der nukleare Schutz für die Bundesrepublik Deutschland erwächst weder aus dem Kernwaffen-verbotsvertrag noch aus einer nationalen nuklearen Option. Ebenso wenig liegt er in der Beschwörung einer europäischen Nuklearmacht, die es noch auf Jahrzehnte hinaus nicht geben wird. Die Antwort auf die Frage, wie sich Deutschland nuklear positionieren sollte, liegt genau dort, wo sie schon seit über einem halben Jahrhundert liegt: in einer vertrauensvollen Zusammenarbeit im Rahmen der NATO, gestützt auf die nukleare Teilhabe, und in der Fortsetzung der Nichtverbreitungsbemühungen im Rahmen des Atomwaffensperrvertrags (Nuclear Non-Proliferation Treaty). Auch wenn der Krieg nach Europa zurückgekehrt ist, gibt es für Deutschland keinen Grund, die Nerven zu verlieren.

 

Michael Rühle, geboren 1959 in Stuttgart, Leiter des Referats für Klima- und Energiesicherheit im Internationalen Stab der NATO, Brüssel.

Der Beitrag gibt ausschließlich die persönliche Auffassung des Autors wieder.

 

1 „Der Offene Brief an Kanzler Olaf Scholz“, in: EMMA, 29.04.2022, www.emma.de/artikel/offener-briefbundeskanzler-scholz-339463 [letzter Zugriff: 20.06.2022].
2 René Pfister: „Die Brüsseler Bombe“, in: Der Spiegel, Nr. 13, 26.03.2011, S. 6.
3 Vgl. beispielhaft das Twitter-Statement von ICAN: „The Ukraine crisis demonstrates how disastrously nuclear deterrence has failed.“, 12.06.2022. Die Ukraine verfügte weder über eigene Nuklearwaffen noch über Schutzversprechen durch andere Kernwaffenstaaten. Nukleare Abschreckung spielte für den Ausbruch dieses Konflikts folglich keine Rolle und konnte daher auch nicht „versagen“, https://twitter.com/nuclearban/ status/1535988410925604867 [letzter Zugriff: 20.06.2022].

4 Vgl. Bruno Tertrais: „‚On The Brink‘ – Really? Revisiting Nuclear Close Calls Since 1945“, in: The Washington Quarterly, 40. Jg., Nr. 2, Sommer 2017, S. 51–66, www.frstrategie.org/sites/default/files/ documents/publications/autres/2017/2017-tertraistwq-on-the-brink.pdf [letzter Zugriff: 20.06.2022].

5 Vgl. Rebecca K. C. Hersman / Robert Peters: „Nuclear U-Turns: Learning from South Korean and Taiwanese Rollback“, in: Nonproliferation Review, 13. Jg., Nr. 3, November 2006, S. 539–553.

6 Vgl. Brad Roberts: Ban the Bomb? Or Bomb the Ban?, European Leadership Network, Global Security Policy Brief, 22.03.2018, www.europeanleadership network.org/wp-content/uploads/2018/03/180322Brad-Roberts-Ban-Treaty.pdf [letzter Zugriff: 20.06.2022].
7 Hans Rühle / Michael Rühle: German Nukes: The Phantom Menace, National Institute for Public Policy Information Series, Nr. 419, 22.03.2017, https://nipp.org/information_series/ruhle-hansand-michael-ruhle-german-nukes-the-phantommenace-information-series-no-419/ [letzter Zugriff: 20.06.2022].