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So nah und doch so fern

Anmerkungen zur Optik des „Overview“

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Es war das vorläufige Ende eines großen Aufbruchs. Die erste bemannte Mondlandung am 20. Juli 1969 lag inzwischen mehr als drei Jahre zurück. Nach weiteren fünf Landungen gelang Apollo 17 als bis heute letzter Raumfahrtmission, Menschen auf einen anderen Himmelskörper zu bringen. Die grandiose Vision einer „New Frontier“ draußen im Weltall, die John F. Kennedy 1960 der amerikanischen Gesellschaft in Aussicht stellte, hatte an Strahlkraft verloren. Der Flug der Apollo 17 wäre rückblickend kein Meilenstein gewesen, hätte nicht eines der drei Besatzungsmitglieder zur Kamera gegriffen und aus der Raumkapsel im richtigen Moment fotografiert. Eine Aufnahme brachte es zu Weltruhm. Sie zeigte nicht etwa das Reiseziel der Mission, sondern den Heimatplaneten: Mondfahrer gewahren die Erde.

Die Erde aus der Sicht der Apollo-17-Besatzung auf dem Weg zum Mond, aufgenommen am 7. Dezember 1972. Foto mit freundlicher Genehmigung der Earth Science and Remote Sensing Unit, NASA Johnson Space Center.

Die Aufnahme, die man als „Blue Marble“ kennt, gilt als meistreproduziertes Foto der Mediengeschichte. Seine heute allgegenwärtige Präsenz lässt die Gründe verschwimmen, warum die Veröffentlichung 1972 Furore machte. „Blue Marble“ war das erste authentische „Weltbild“, über das die Menschheit verfügte – noch dazu eines von betörender Schönheit und bestechender Brillanz. Bis dahin hatte sich der Erdball nur als Fiktion gänzlich erfassen lassen. Die bis in die Kinderzimmer verbreiteten Globen waren Konstrukte. Diese reale Sicht „von oben herab“ hatte so noch kein Mensch zuvor.

„Blue Marble“ veränderte das Verhältnis von Mensch und Welt für immer. Gewissermaßen machte sie uns alle zu Astronauten. Von extraterrestrischer Warte aus betrachtet, tauschten Himmel und Erde die Plätze. „Welt“ bedeutete jetzt Erde minus Universum. Aus der Suche und Erkundung unendlicher Weiten wurde Rückschau, bis hin zur Selbstfindung. Gefühlsbetont gestalten sich die Beschreibungen: „Blue Marble“, ein ebenso zauberhaftes wie zerbrechliches Schmuckstück, winzig, verloren, schutzlos in der galaktischen Schwärze, Leere und Kälte, ein Memento mori für unsere naturzerstörerische Zivilisation, Anklage und Aufruf zu menschlicher Demut.

„Blue Marble“ gab eine Vorstellung von der Erde als einzigartigem Lebensraum, von globalen Zusammenhängen. Zugleich rückte sie das irdische Geschehen in die Ferne. Im „Overview“ verschwinden lästige Details. Sentimentalitäten, wie sie bisher der Blick zu den Sternen evoziert hatte, änderten den Richtpunkt. Die Erde selbst wurde zum Sehnsuchtsort – schön und erhaben wegen seiner Unerreichbarkeit? Jedenfalls fiel die Rückkehr aus der Schwerelosigkeit manchen schwer.

„Blue Marble“ und ihre Rezeption verweisen darauf, dass die Raumfahrt – trotz aller Spitzentechnologie – nicht nur zu einer Objektivierung der Weltbetrachtung geführt hat. Der Veröffentlichung der „Blue Marble“ liegt sogar die Absicht einer Emotionalisierung zugrunde. Fast könnte man von einer besonders subtilen Form von Nudging sprechen. Vieles von dem, was unsere Gegenwart bestimmt und wissenschaftliche Rationalität beansprucht – Klimaaktivismus, Digitalisierung und Prozessdenken –, hat hier eine höchst affektive, irrationale Wurzel.

 

„Wir existieren als Götter“

 

Nicht etwa NASA-Verantwortliche sind Ende der 1960er-Jahre auf die Idee gekommen, das Weltraumfoto der Erde zu publizieren: Es war eine zivilgesellschaftliche Initiative in Kalifornien, dem aufkommenden Epizentrum bahnbrechender Innovationen. „Warum haben wir noch keine Fotografie der ganzen Erde gesehen?“, so die Aufschrift eines Ansteckers, die ihr Wortführer, Steward Brand, prägen ließ.

Eine Art Erleuchtung, angeblich auf einem LSD-Trip, soll Brand dazu bewegt haben, seine Forderung an den Kongress der Vereinigten Staaten von Amerika zu richten. Dabei stand ihm klar vor Augen, was ein solches Foto bewirken könnte. Es ging um das Wecken von Leidenschaften, um die Mobilisierung für eine Sache, die nicht weniger als Weltveränderung im Sinn hatte. Die ergreifende Zerbrechlichkeit des Planeten Erde gab dazu Pathos und Rechtfertigung.

Der scheinlegere Stil der kalifornischen Gegenkultur lässt übersehen, dass die geistigen Strömungen, die damals Fahrt aufnahmen, eine Totalität weit jenseits von menschlicher Demut anvisierten. Menschheit, eine globale Zivilisation, lautete die ursprüngliche Utopie, verbunden mit einem prometheischen Machbarkeitsdenken: „Wir existieren als Götter und sollten dann auch versuchen, gute Götter zu werden“, so Brand in einem seiner Bücher. Es waren einstige Aussteiger wie er – Hippie, Umweltaktivist, Internetvisionär –, die digitalen Technologien und Systemdenken als Instrumente globaler Disruption zum Durchbruch verhalfen.

 

iPhones und “Fridays for Future”

 

Als bizarrer Mischmasch ist die „Californian Ideology“ bezeichnet worden. Vieles kam zusammen, was nicht zusammenzugehören schien. Als zeit- und zukunftsprägend hat sie sich dennoch erwiesen. Die praktischen Lösungen, die sie hervorbrachte – Brand gründete die erste Online-Community –, begeisterten, sie änderten Leben und Arbeit, Gesellschaft und Politik. Wer wollte, wer konnte sich dem versperren?

Dass „Blue Marble“ später nicht nur auf den Displays des ersten iPhones aufleuchtete und noch später zum Modell für das Signet von Fridays for Future wurde, steht auf keinem anderen Blatt. Das Apollo-17-Foto inspirierte in gleichem Maße die Klimabewegung – nicht zuletzt, weil es fast zeitgleich mit den Grenzen des Wachstums des Club of Rome erschien.

Die digitale Revolution hat nichts von ihrer Veränderungskraft verloren, sie gewinnt mit „Künstlicher Intelligenz“ sogar an Macht. Erfahrungsgeläutert nimmt ihren Exponenten allerdings inzwischen niemand mehr ab, dass sie nur Heilstaten für die Menschheit bereithalten. Unablässig werden Studien zu den planetaren Belastungsgrenzen veröffentlicht, und jeder weiß: Sie sind überschritten! Frust und Ärger machen sich breit; sowohl bei denen, die mehr Umwelt- und Klimaschutz fordern, als auch bei denen, die sich durch energiepolitische Regierungsentscheidungen gegängelt fühlen. Nicht nur Kleber und Karosserien geraten aneinander. Ist es nicht vielleicht an der Zeit, die ideologischen Bestandteile gegenwärtiger Fortschrittsgeneratoren neu zu bedenken? Was wäre beim Blick auf „Blue Marble“ heute anders? Einige zuspitzende Anregungen:

Weltveränderer, die das Ganze im Blick haben, sind selten gewillt, sich durch Zweit- oder Drittrangiges, erst recht durch Abstiege ins Alltägliche, ablenken und irritieren zu lassen. So passt es ins Bild, dass Fachleute auf „Blue Marble“ zwar die innertropische Konvergenzzone auszumachen verstehen, aber die Erdoberfläche „wüst und leer“ erscheint – freie Bahn für neue Schöpfungen, wie sie das Silicon Valley unverhohlen für sich beansprucht. Wenn es um die ganze Menschheit geht, bleiben Mensch und Menschen außen vor?

Erstaunlich nahe beieinander liegen Globalbeglückung und der Abschied von der Erde. Schon vor Jahrzehnten hatte Hannah Arendt „erdgebundene Wesen“ vor Augen, „die handeln, als seien sie im Weltall beheimatet“. Inzwischen wird Erdferne zum Markenzeichen stilgebender Unternehmen. Wie ein „gelandetes Raumschiff“ sollte Steve Jobs’ neue Apple-Zentrale aussehen – eine Firma von einem anderen Stern. Die Gegenwart ist Steinzeit: Muss das noch sein?

Der überirdische Blick ist heute ein virtueller. Die neue Technik entrückt, indem sie Komplexität zu reduzieren verspricht. Das Chaos scheint gebändigt, Störendes wird weggefiltert. Was nicht in Tabellen steht, ist nicht in der Welt. Daten statt Durcheinander? Der Alltagserfahrung entspricht das nicht. Eine digital auslesbare Welt erfreut Manager, Prozesssteuerer und Empiriker, ist zugleich eine Quelle der Verunsicherung. Wenn alles berechenbar ist, muss dann nicht auch alles – selbst Pandemien – Berechnung sein? Es gibt eine beunruhigende Überschneidung von Solutionismus und Verschwörungstheorien.

Top-down-Perspektiven – nicht nur von Raumschiffen, meist von Satelliten und Drohnen – prägen die Wahrnehmung: Weltsicht als Aufsicht? Man darf es ruhig im doppelten Sinne verstehen. Der Erfinder des Konzepts „Anthropozän“, Paul J. Crutzen, schlug angesichts der ökologischen Großkrise ein „global enviromental management“ vor, mit dem „wir den Kurs der Natur symbio tisch steuern können“. Handeln statt aushandeln. Das müssen alle doch verstehen. Für die Erde und ihre Bewohner wird gesorgt.

Geht es etwa um eine Hyper-Inklusion? Manch einer fühlt sich volkspädagogisch jedenfalls zu fest umarmt. Erst kürzlich hat Kulturstaatsministerin Claudia Roth eine „zentrale Anlaufstelle ‚Green Culture‘“ gegründet; es brauche auch eine „Ästhetik der Nachhaltigkeit“.

Besteht eine Neigung zur Überaffirmation, auch und gerade in Staat und Politik? Seit Langem warnt Jan-Werner Müller vor Technokraten, die ihre „Vernunft“ über die Meinung der Wähler stellen. Wenn sich Bürger nicht mehr im Staat aufgehoben fühlen, sind Appelle seiner Repräsentanten und nahestehender Institutionen das falsche Mittel. Sie wirken wie Zurufe von überlegener Warte an diejenigen, die scheinbar weniger souveräne Übersicht für sich beanspruchen können.

„Blue Marble“ kann auch heute ein Planet des Anstoßes sein, da die ebenso widersprüchliche wie mitreißende Ursprungskoalition von empathischen Überschauern und technikaffinen Durchblickern auf ihrem Höhenflug das Gespür für gesellschaftliche Gravität zu verlieren droht. Jetztzeitige, die nicht permanent zu himmlischen Aufschwüngen fähig sind, winken von unten: „Kommt runter! Nehmt uns mit! Hört uns an! Wir können euch helfen.“ Erdung könnte der noch größere Aufbruch sein.

 

Bernd Löhmann, geboren 1966 in Krefeld, Chefredakteur „Die Politische Meinung“.

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