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Wie Erkenntnisse der Astrophysik das Weltbild verändern

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Die großen Revolutionen in unserem Verständnis der Welt sind schon lange vollendet. Die Erde ist keine Scheibe, wurde nicht in sechs Tagen erschaffen und befindet sich nicht im Zentrum unseres Universums. Die Sonne, unser Stern, ist ein ganz normaler Durchschnittsstern und unsere Milchstraße eine gewöhnliche Spiralgalaxie – eine von unzähligen Galaxien da draußen. Wir kennen unseren Platz im Universum, der sich bis auf ein paar Einzelheiten auch nicht mehr großartig verändern wird. Die Wissenschaft streitet sich noch an den Extrempunkten, um Details von Anfang und Ende des Universums, aber für uns und unsere Position im Universum sind eigentlich keine großen Umbrüche mehr zu erwarten.

Wenn Sie dem zustimmen, geht es Ihnen wahrscheinlich wie den meisten Menschen, wenn sie an den Stand der Wissenschaft denken. Doch in unserer modernen Überheblichkeit vergessen wir, dass es sich bei vielen der großen Entdeckungen um vergleichsweise junges Wissen handelt und dass die daraus folgenden Perspektivenwechsel – wenn überhaupt – erst wenige menschliche Generationen zurückliegen.

So wissen wir zum Beispiel dank der großartigen Arbeit der britisch-amerikanischen Astronomin Cecilia Payne erst seit knapp einhundert Jahren, woraus Sterne bestehen. Noch etwas kürzer kennen wir unsere Position in der Milchstraße oder wissen um die Existenz anderer Galaxien. In den 1920er-Jahren war genau das eine der großen Fragen der Astronomie: Ist unsere Milchstraße die einzige Galaxie, ist sie also das gesamte Universum, oder ist sie eine von vielen in einem gigantischen Universum voller Galaxien? Die kleinen, nebligen Flecken, von denen wir heute wissen, dass sie andere Galaxien sind, wurden bereits seit der Erfindung des Teleskops, also schon seit einigen Jahrhunderten, am Himmel beobachtet, aber niemand wusste, was genau sie waren. Es gab damals einfach keine Möglichkeit, ihre Entfernung zu bestimmen – bis die US-amerikanische Astronomin Henrietta Leavitt die Perioden-Leuchtkraft-Beziehung bestimmter veränderlicher Sterne entdeckte. Damit konnten endlich auch sehr große Entfernungen genau bestimmt werden. Es stellte sich heraus, dass die verwaschenen Nebelchen nicht Hunderte oder Tausende Lichtjahre weit weg waren, wie etwa die Sterne, die wir am Himmel sehen, sondern dass sie Millionen von Lichtjahren von uns entfernt sind. Das Universum war mit einem Schlag von einem (relativ) heimeligen Universum der Größe unserer Milchstraße zu einem unfassbar riesigen, extragalaktischen Universum geworden, die Galaxien darin gigantische Inselwelten in einem noch gigantischeren Meer aus leerem Raum.

 

„Cosmic Vertigo“

 

Doch wie viele dieser galaktischen Sterneninseln es da draußen wirklich gibt, zeigte sich erst Mitte der 1990er-Jahre, als Astronominnen und Astronomen entschieden, das beste Teleskop der Welt auf einen leeren Fleck am Himmel zu richten: das berühmte Hubble Deep Field, das einen ganz besonders tiefen Blick ins Universum erlaubt. Die Idee klingt nicht nur absurd; sie war damals tatsächlich sehr riskant. Das Hubble-Weltraumteleskop hatte ja gerade erst seine Brille bekommen. Tatsächlich hatte die NASA ein kaputtes – beziehungsweise kurzsichtiges – Teleskop in den Weltraum geschickt. Und nach der Blamage und der aufwendigen Reparatur im All musste das Teleskop erst einmal zeigen, was es wirklich kann. Warum also ein leeres Stück Himmel untersuchen? Der Fleck war natürlich nur scheinbar leer und sollte, wenn die Berechnungen der Forscherinnen und Forscher stimmten, jede Menge Galaxien enthalten. Über zehn aufeinanderfolgende Tage hinweg wurde dieses winzige Stück Himmel, das der Größe eines Stecknadelkopfes in der ausgestreckten Hand entspricht, genau unter die Lupe des Hubble-Weltraumteleskops genommen. Und das Ergebnis? Das winzige Bild enthält ungefähr 3.000 Galaxien. So gut wie jedes noch so klitzekleine Lichtfleckchen in dem Bild ist eine ganze Galaxie, die wie unsere Milchstraße aus Milliarden von Sternen besteht. Es sind Galaxien, die noch nie zuvor beobachtet wurden, Galaxien in bunten Farben und allerlei Formen, Galaxien, deren Licht über die letzten zwölf Milliarden Jahre bis zu uns unterwegs war. Seitdem wissen wir: Die Milchstraße ist eine von Hunderten Milliarden von Galaxien in unserem Universum.

Etwa zur gleichen Zeit kam es zu einer anderen großen, perspektivischen Relativierung: zur Entdeckung des ersten Exoplaneten, also eines Planeten, der um einen anderen Stern ähnlich unserer Sonne kreist. Dabei handelte es sich zwar nicht um einen Planeten, der unserer Erde ähnelt, sondern um einen großen, jupiterähnlichen Gasplaneten, aber es war dennoch eine kleine Revolution. Die Entdeckung des ersten potenziell erdähnlichen Gesteinsplaneten ließ auch nicht lange auf sich warten und folgte ein gutes Jahrzehnt später. Heute wissen wir, dass die meisten Sterne auch ihre eigenen Planeten haben und dass unser Planetensystem mit seinen vier Gasriesen und vier Gesteinsplaneten nicht ungewöhnlich zu sein scheint.

Stück für Stück – oder Lichtjahr für Lichtjahr – hat sich also unsere vermeintlich spezielle Position im Universum relativiert, unsere Existenz mehr und mehr normalisiert. Am Rande eines äußeren Spiralarms unserer Milchstraße fristen wir unser winziges, unbedeutendes und durchschnittliches Dasein. Auf einer kleinen Felskugel umkreisen wir einen ganz normalen Stern, einen von hundert Milliarden Sternen in unserer ganz normalen Milchstraße, die wiederum eine von Hunderten Milliarden Galaxien im Universum ist. Falls Sie zu den Menschen gehören, denen diese Perspektive eine gewisse Beklemmung verursacht, seien Sie getrost: Sie sind nicht allein. Dieses Gefühl hat im englischen Sprachraum sogar einen Namen: cosmic vertigo, kosmische Höhenangst. Eine Art körperliche Reaktion auf die schieren Ausmaße des Universums, auf die Tiefe über unseren Köpfen. Oder ist es die Angst vor unserer damit verbundenen Bedeutungslosigkeit?

 

Allgegenwärtigkeit oder Einzigartigkeit des Lebens?

 

Vielleicht ist ja gerade das der nächste große Perspektivenwechsel, der uns unmittelbar bevorstehen könnte: Sind wir wirklich so bedeutungslos? Vielleicht sind wir ganz im Gegenteil etwas ganz Besonderes: das Universum, das sich selbst zu verstehen versucht. So gewöhnlich unser Stern, unsere Galaxie und unser Planetensystem auch sein mögen, es gibt tatsächlich etwas, was unseren Planeten auszeichnen könnte: uns; oder allgemeiner gesagt: das Leben auf der Erde. Wir wissen noch nicht, ob das Leben, ob die Biosphäre der Erde nicht möglicherweise doch einzigartig ist. Stellen Sie sich vor: Es besteht tatsächlich die Möglichkeit, dass unsere Erde der einzige belebte Himmelskörper im Universum ist.

Sternhaufen „Westerlund 2“, 20.000 Lichtjahre von der Erde entfernt. Archivbild des Hubble-Weltraumteleskops. Foto: © NASA, ESA, the Hubble Heritage Team (STScI/AURA), A. Nota (ESA/STScI), and the Westerlund 2 Science Team

Die Anzahl potenziell erdähnlicher Planeten lässt zwar anderes vermuten: Es gibt wahrscheinlich eine Milliarde (!) potenziell erdähnliche Planeten, und das nur in unserer Milchstraße. Aber, und das ist ein riesiges Aber, wir wissen einfach nicht, wie wahrscheinlich die Entstehung des Lebens tatsächlich ist. Immerhin ist das Leben auf der Erde auch nur einmal entstanden, denn alles Leben auf der Erde basiert auf den gleichen Grundbausteinen. Wir sind alle miteinander verwandt. Und wenn die Wahrscheinlichkeit, dass Leben entsteht, sehr gering ist, also etwa nur eins zu einer Milliarde, dann sind wir die Einzigen in unserer Galaxis. Auf der anderen Seite wäre es aber genauso möglich, dass die Milchstraße voll von Leben ist. Ehrlich gesagt, ich weiß nicht, was die größere Überraschung wäre: Anderes Leben da draußen zu finden oder zu erfahren, dass wir allein sind.

Und vielleicht noch faszinierender: Wir sind mittlerweile in der Lage, das Leben da draußen, so es denn in entsprechender Häufigkeit existiert, zu finden. Wir müssen dafür nicht auf einen interstellaren Besuch, eine Begegnung der dritten Art warten. Wir können die Atmosphären vieler Lichtjahre entfernter Exoplaneten auf ihre Zusammensetzung und die Anwesenheit von Biomarkern im wahrsten Sinne des Wortes durchleuchten. Vielleicht kommt diese Entdeckung sogar schon in den nächsten Jahren, denn das neue James Webb Space Telescope wäre dazu unter Umständen in der Lage; höchstwahrscheinlich erfolgt sie aber mit dem ELT, dem Extremely Large Telescope, einem wahren Giganten eines Teleskops mit einem Spiegeldurchmesser von unglaublichen 39 Metern, das gerade in Chile von der Europäischen Südsternwarte gebaut wird und Ende der 2020er-Jahre in Betrieb genommen werden soll. Wenn um einen der hundert nächsten Nachbarsterne der Sonne eine zweite Erde kreist, werden wir sie mit dem ELT finden. Es ist also plausibel, dass sich die Perspektive unserer Einzigartigkeit im nächsten Jahrzehnt in Luft auflöst.

Der Blick in die Tiefe (oder Höhe?) des Weltalls gibt uns also nicht nur eine relativierende Perspektive, sondern auch eine Möglichkeit der Einordnung unserer Existenz. Doch was wäre die größere Revolution: die Entdeckung der Allgegenwärtigkeit des Lebens oder doch die unserer Einzigartigkeit in einem lebensfeindlichen Kosmos? Es scheint fast, als würde aus der Relativierung, der Entdeckung unserer Bedeutungslosigkeit und Normalität, eine neue Besonderheit erwachsen. Vielleicht sind wir zwar nicht einzigartig im Kosmos, aber die Erde ist es auf jeden Fall, insbesondere für uns. Denn auch, wenn es diesen Erdzwilling da draußen gibt, für uns ist er natürlich keine Option. Wir haben die Herausforderungen des interstellaren Reisens noch nicht gelöst, und das wird auch noch auf absehbare Zeit so bleiben. Für uns gibt es keinen Planeten B.

 

Der Overview-Effekt

 

Aus dieser Besonderheit ergibt sich eine große Verantwortung; eine Verantwortung, die wir als Gesellschaft tragen. Es ist eine politische Verantwortung, keine individuelle. In einer Gesellschaft, die seit Jahrzehnten von neoliberaler Politik geprägt ist, ist es kein Wunder und in vielen Fällen auch gar kein Nachteil, dass das Individuum im Vordergrund steht. Bei der Klimakrise ist es allerdings kontraproduktiv. Individuelle Verhaltensänderungen schaden nicht, die Abwälzung der kollektiven Verantwortung auf das individuelle Handeln jedoch führt zur Verschwendung kostbarer Zeit.

Auch beim Blick in die andere Richtung wird unsere Verantwortung offensichtlich: bei dem Blick, den Astronautinnen und Astronauten aus dem Weltraum zurück auf die Erde werfen. Das ist der sogenannte Overview-Effekt, der Überblick, der dazu führt, die Erde als leuchtendes, lebendes, kostbares Juwel inmitten der Schwärze des Weltraums wahrzunehmen. Es geht allerdings nicht so sehr um das Schützen der Erde oder das Schützen des Klimas. Die Erde und das Klima brauchen uns nicht. Es geht um unseren eigenen Schutz, es geht um unsere Existenz, um den Fortbestand unserer Zivilisation. Das ist kein Alarmismus, sondern das eindeutige Ergebnis wissenschaftlicher Forschung der letzten Jahrzehnte. Alle Fakten liegen auf dem Tisch, wir wissen, was zu tun ist. Nun liegt es an den Entscheidungsträgerinnen und -trägern, die Katastrophe, auf die wir zusteuern, im letzten Moment abzuwenden. Auf dass sich das Bild unserer Welt nicht in eine Richtung verändert, die wir alle nicht wollen.

 

Ruth Grützbauch, geboren 1978 in Wien, promovierte Astronomin, Wissenschaftskommunikatorin und Direktorin des Pop-up-Planetariums „Public Space“.

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