Prägung im Kaiserreich
Geboren wird Otto Friedrich Karl Dibelius im Jahr 1880 in Berlin als Sohn eines Postbeamten, seine Mutter stammt aus einem schlesischen Pfarrhaus. Nach dem Abitur 1899 am Realgymnasium in Berlin-Lichterfelde schlägt er die kirchliche Laufbahn ein und tritt damit in die Fußstapfen seines Onkels Franz Dibelius, dem Oberhofprediger in Dresden. Er studiert Theologie an der Friedrich-Wilhelms-Universität in Berlin, der University of Edinburgh in Schottland sowie dem Predigerseminar in der Lutherstadt Wittenberg.
Dibelius entscheidet sich jedoch gegen eine Hochschullaufbahn. Ihn zieht es ins Pfarramt, den praktischen Dienst an den Menschen in einer Gemeinde. Tatsächlich ist er ein begabter Prediger, denn er beherrscht die Kunst, sich einfach und allgemeinverständlich auszudrücken und damit seine Zuhörer persönlich zu erreichen. In den Jahren vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs hat er Pfarrstellen in größeren und kleineren preußischen Gemeinden inne, seit 1915 an der Kirche zum Heilsbronnen in Berlin-Schöneberg. Wie die Mehrheit der nationalprotestantisch geprägten Geistlichkeit sieht er den Ersten Weltkrieg als Verteidigungskrieg und setzt seine Hoffnungen auf einen Sieg der Mittelmächte.
Ein neues Staat-Kirche-Verhältnis nach 1918
Da die evangelische Kirche in Preußen bis Herbst 1918 eine Staatskirche war, verliert sie mit der Abdankung Wilhelms II. ihr Oberhaupt. Ende November 1918 ruft die Kirche, namentlich das Evangelische Oberkonsistorium in Berlin, einen „Vertrauensrat“ ins Leben. Er soll den Neuanfang gestalten und bestimmt Dibelius zu seinem Geschäftsführer, eine Art „Generalsekretär“. Er erkennt in der Novemberrevolution eine Chance, die Kirche als freie selbständige Kirche neu zu gestalten. Seine Ideen für das künftige Verhältnis zwischen Staat und Kirche beruhen im Wesentlichen auf folgenden Grundüberzeugungen, die für ihn nicht nur nach 1918, sondern auch nach 1945 Grundlage seines Handelns sind:
1. Kirche und Staat existieren unabhängig voneinander. Dabei lehnt die Kirche einen allmächtigen Staat ab, der Macht über die Kirche ausüben will. Umgekehrt macht die Kirche keine Politik, sondern steht über den Parteien.
2. Staat und Kirche bleiben aufeinander bezogen. Der Staat braucht die Kirche, weil er selbst keine religiösen Inhalt stiftet. Umgekehrt beruft sich die Kirche auf staatlichen Schutz und erhält finanzielle Zuwendungen vom Staat, um ihre Aufgaben erfüllen zu können.
3. Die Kirche erhält einen Führungsanspruch bei der „Werte-Erhaltung und Werte-Bildung“ des Volkes.
4.In ihrer inneren Verfassung behält die Kirche das zentralistische Kirchenregiment bei, um ein starke Verhandlungsposition gegenüber dem Staat einzunehmen.
5. Die Kirche soll als Volks-Kirche möglichst vielen gesellschaftlichen Gruppen eine Heimat bieten.
In den Jahren 1918/19 gelingt es der Evangelischen Kirche, die meisten dieser Vorstellungen rechtlich zu verankern. Die Weimarer Reichsverfassung besiegelt das Ende der Staatskirche, garantiert aber die überkommenen Privilegien der Kirche, beispielsweise den Einzug der Kirchensteuer und die Beibehaltung der Konfessionsschulen. Auf der Ebene des Landes Preußen münden die Verhandlungen schließlich 1931 in den Preußischen Kirchenvertrag, der eine „staatliche Garantie einer Rechts- und Bestandssicherheit“ beinhaltet. Dibelius gewinnt in diesen Jahren und später als Oberkonsistorialrat und Mitglied des Evangelischen Oberkirchenrates an Bekanntheit und Ansehen. 1925 wird er als erster von der Kirche bestimmter Leiter zum Generalsuperintendenten der Kurmark (Institutioneller Vorgänger der heutigen Evangelischen Kirche von Berlin-Brandenburg) berufen, mit rund 20 Millionen Mitglieder die größte Evangelische Landeskirche in Deutschland.
Vom „Tag von Potsdam“ zur Bekennenden Kirche
Im Frühjahr 1933 wird Hitler zum Reichskanzler ernannt. Nach den Wahlen im März 1933 plant das NS-Regime, die Reichstagseröffnung im großen Stil in Potsdam propagandistisch zu inszenieren. Am Vormittag des „Tags von Potsdam“ feiern die evangelischen Abgeordneten einen Gottesdienst in der Potsdamer Nikolaikirche, in dem Dibelius die Predigt hält. Einerseits spricht er davon, dass „die Kirche der rechtmäßigen staatlichen Gewalt nicht in den Arm fallen darf, wenn sie tut, wozu sie berufen ist“ und dies könne sie auch „hart und rücksichtslos“ tun. Andererseits setzt er der staatlichen Gewalt Grenzen: „Aber wir wissen auch, dass Luther mit demselben Ernst … Gerechtigkeit und Barmherzigkeit gefordert hat, sobald die Ordnung wiederhergestellt war“. Das Muster eines „Ja, aber“ durchzieht seine Predigt. Dibelius erliegt damit der Fehleinschätzung, der nationalsozialistische Terror sei eine vorübergehende Erscheinung wie in der Gewaltphase einer jeden Revolution.
Die Nationalsozialisten empfinden seine Predigt als Affront. In den folgenden Wochen wird er als Landesverräter beschimpft und seine „zwiespältige Haltung“ angeprangert. Infolge der NS-Gleichschaltungspolitik versuchen die Nationalsozialisten, eine Reichskirche unter Führung der NS-treuen „Deutschen Christen“ zu errichten. Dibelius wird daher im Juni 1933 durch den neu eingesetzten Staatskommissar Jäger beurlaubt, im September seines Amtes enthoben und in den vorzeitigen Ruhestand versetzt. Er erhält Schreib- und Predigtverbot.
Dibelius schließt sich der bekennenden Kirche an, die sich 1934 in der Barmer Theologischen Erklärung unmissverständlich von der falschen Lehre der „Deutschen Christen“ distanziert. Von Beginn an ist er Mitglied des Pfarrernotbundes um Martin Niemöller und Kurt Scharf. In einem offenen Brief an Reichskirchenminister Kerrl 1937 weist er den Versuch, den Staat zur Kirche zu machen und über Predigt und Glaubensbekenntnis zu kontrollieren, entschieden zurück: „…wenn der Staat darauf abzielt, die Kirche selbst zu sein und seine Macht auf die Seele der Menschen und die Lehre der Kirche zu erstrecken, dann sind wir, um Luthers Wort zu gebrauchen, in Gottes Namen dazu verpflichtet, Widerstand zu leisten, und es besteht kein Zweifel darüber, daß wir entsprechend handeln werden.“ Er wird daraufhin wegen des Vorwurfs des Verstoßes gegen das Heimtückegesetz verhaftet und vor Gericht gestellt. Der Richter spricht ihn jedoch frei, sodass ihm die Inhaftierung im Konzentrationslager erspart bleibt.
In der Bekennenden Kirche ändert sich auch seine Einstellung zu den Juden. In einem Rundbrief von 1928 bezeichnete er sich selbst noch als Antisemiten. Es ist kein Antijudaismus, sondern durchaus ein rassischer Antisemitismus, wenn er dort schreibt, „dass bei allen zersetzenden Erscheinungen der modernen Zivilisation das Judentum eine führende Rolle“ spiele. Im selben Brief heißt es jedoch zugleich: „Das Völkische, … aus der Verbindung mit dem christlichen Glauben herausgenommen, verfällt einer Hemmungslosigkeit, die die nicht minder verhängnisvoll ist als das, was dadurch bekämpft werden soll.“ Ihm wird bewusst, dass die nationalsozialistische Verleumdung Jesu als „Judenlümmel“ zugleich das Christentum verneint. Unter Gefahr für sich selbst und seine Mitarbeiter gelingt es Dibelius, während des Krieges zwei „Nichtarier“ im Büro des Gustav-Adolf-Vereins zu verstecken.
Neubeginn nach 1945
Nach dem Krieg ist Dibelius federführend an der Formulierung des Stuttgarter Schuldbekenntnisses vom 19. Oktober 1945, der Schulderklärung der evangelischen Christen Deutschlands, beteiligt. Darin heißt es: „Durch uns ist unendliches Leid über viele Völker und Länder gebracht worden. … wir klagen uns an, dass wir nicht mutiger bekannt, nicht treuer gebetet, nicht fröhlicher geglaubt und nicht brennender geliebt haben“. Dibelius übernimmt das Amt des Bischofs der Berlin-Brandenburgischen Kirche. Gleichzeitig tritt er der CDU bei, da er in der konfessionellen Union die Möglichkeit sieht, dass Christen den säkularen Staat mitgestalten. Ein Parteiamt übt er zwar nicht aus, bindet durch seine Positionierung jedoch große Teile des nationalkonservativen protestantischen Milieus an die interkonfessionelle Union. Inhaltlich greift auf seine Vorstellungen aus seiner Amtszeit als Generalsuperintendent der Kurmark zurück. Die Kirche wird als Volkskirche wiederhergestellt, wie sie bis 1933 bestanden hatte.
Ratsvorsitzender der EKD und Bischof einer geteilten Kirche
1949 wird Dibelius zum Vorsitzenden des Rates der EKD gewählt. In diesem neugeschaffenen kirchlichen Leitungsamt erwächst ihm die Rolle eines Sprechers für die gesamte Evangelische Kirche in Deutschland. Auch auf der internationalen Ebene verleiht er den deutschen Protestanten eine Stimme. Schon vor dem Krieg hatte er an den Weltkirchenkonferenzen in Stockholm 1925 und Lausanne 1927 teilgenommen, war nach 1945 mehrfach nach England und Skandinavien gereist und hatte 1948 Präsident Truman in den USA getroffen. Im August 1954 wird er zu einem der sechs Präsidenten des Weltkirchenrates gewählt und versieht das Amt bis 1961. Auch in der Ökumene setzt Dibelius Zeichen, als er 1956 den Vatikan besucht. Es ist das erste Mal, dass der hochrangigste Vertreter der evangelischen Christen Deutschlands und der Papst persönlich miteinander sprechen.
Im Verhältnis der Evangelischen Kirche zur Bundesrepublik ist die Frage der Militärseelsorge in der neugegründeten Bundeswehr eines der großen Themen seiner Amtszeit. In langen Verhandlungen mit der Bundesregierung setzt sich Dibelius für den Abschluss eines Militärseelsorgevertrages ein, der 1957 unterzeichnet wird. Ihm liegt der Gedanke zugrunde, dass Soldaten auch während ihrer aktiven Dienstzeit die Möglichkeit haben sollen, am kirchlichen Leben teilzunehmen. Die Militärpfarrer sind nicht Vorgesetzte, sondern geistliche und menschliche Betreuer der Soldaten. Angebote an die DDR-Regierung, ein analoges Abkommen zur Militärseelsorge in der Nationalen Volksarmee (NVA) zu schließen, werden brüsk zurückgewiesen.
Das Verhältnis der Evangelischen Kirche zur DDR-Regierung ist von Beginn an höchst spannungsgeladen, nicht zuletzt deshalb, weil die Grenzen der Berlin-Brandenburgischen Kirche quer zu den Grenzen zwischen DDR und West-Berlin verlaufen. Da das SED-Regime viele Merkmale mit dem Nationalsozialismus teilt, sieht Dibelius die Kirche vor einem zweiten Kirchenkampf und schlägt einen strikt antikommunistischen Kurs ein. Bereits 1949 warnt er vor der Wiederentstehung eines neuen Polizeistaates, der Denunziantentum fördere und in dem nächtliche Verhaftungen, Verhöre ohne Verteidigung, politische Rechtsprechung und die Manipulation von Wahlen an der Tagesordnung seien. Christen, so Dibelius, dürften sich „zu nichts hergeben, was den Geist der Gewalt und der Lüge atmet“ (Rheinische Post, 1949). 1951 schreibt er an Stalin und protestiert gegen die SED-Gewaltherrschaft, die politische Strafjustiz und die unsäglichen Haftbedingungen in den Gefängnissen der DDR. Im April 1952 bietet er die Kontrolle der von Stalin vorgeschlagenen gesamtdeutschen Wahlen durch die Kirchen an, da sie Vertrauen bei der Bevölkerung in Ost und West genießen und über die notwendigen organisatorischen Strukturen verfügen.
Höhepunkt des Konfliktes ist der Obrigkeitsstreit 1959/60. Im Kern geht es Dibelius um die Frage, ob das SED-Regime Obrigkeit im Sinne von Kapitel 13 des Römerbriefs sei („Jedermann sei untertan der Obrigkeit, die Gewalt über ihn hat. Denn es ist keine Obrigkeit ohne von Gott; wo aber Obrigkeit ist, die ist von Gott verordnet“). Dibelius verneint die Frage mit folgender Begründung: Wenn die Inhaber der staatlichen Gewalt die Maßstäbe für Gut und Böse nicht mehr als von Gott (allgemein einer höheren Macht) gegeben akzeptieren, das heißt keine ihnen übergeordneten, unantastbaren Normen mehr akzeptieren, sondern sie selbst bestimmen wollen, weil niemand über dem „Führer“ steht oder „die Partei immer Recht hat“, sei dies keine Obrigkeit mehr im Sinne von Römer 13. Der Christ werde dann zwar einzelnen Gesetzen dieser Obrigkeit Folge leisten, wo er sie mit seinem Gewissen vereinbaren könne, mehr aber nicht. Kontrovers diskutiert wird ein Beispiel aus seiner Schrift mit dem Titel „Obrigkeit?“, dass eine Geschwindigkeitsbeschränkung im Straßenverkehr der DDR streng genommen keine Legitimität besitzen könne, da sich die SED-Funktionäre nicht einmal selbst an ihre Regeln hielten. Dibelius rückt später von diesem Beispiel ab, bleibt in der Sache aber bei seiner Meinung: „Man kann in einem Machtbereich nur leben, wenn man sich diesem Machtbereich einfügt. Und aus diesem Grunde ist die Gehorsamspflicht des Christen auch in einem totalen Staate unabdinglich. Worum es mir jetzt geht, ist ja nur die innere Motivation, die hier vorliegt“ (D. in der "Welt" v. 31.10.1959). Dibelius bricht damit mit der Lutherischen Tradition, der dahinterstehende theologische Grundsatzstreit bleibt jedoch unentschieden.
Die SED regiert mit offenen bis subtilen Repressionsmaßnahmen: 1955 wird die Jugendweihe eingeführt und die Junge Gemeinde unter Druck gesetzt, einzelne ihrer Mitglieder verfolgt. Dibelius wird persönlich angegriffen und wegen des Militärseelsorgevertrages als „Atom-Bischof“ verunglimpft, 1954 verweigert man ihm den Passierschein für den Kirchentag in Potsdam, ab 1957 die Einreise in die DDR. Seit dem Mauerbau 1961 wird ihm auch die Einreise nach Ost-Berlin verwehrt.
Letzte Jahre und kirchliches Testament
Seine Einflussmöglichkeiten sind fortan eingeschränkt. 1961 gibt er den Vorsitz des Rates der EKD an Kurt Scharf und den Vorsitz in der kirchlichen Ostkonferenz an den Greifswalder Bischof Krummacher ab. Da sich die Berlin-Brandenburgische Kirche nicht auf einen Nachfolger einigen kann, versieht Dibelius das Bischofsamt noch weitere fünf Jahre. Zum 31. März 1966 führt er Präses Kurt Scharf als seinen Nachfolger ein.
Ein langer Ruhestand ist ihm nicht vergönnt: Kein Jahr nach der Amtsübergabe an Scharf und wenige Wochen vor Altkanzler Konrad Adenauer stirbt Dibelius am 31. Januar 1967 im Alter von 86 Jahren in Berlin und wird ebenda beigesetzt. Bereits auf der EKD-Synode von 1960 hatte er sein kirchliches Testament formuliert, in dem er das Stuttgarter Schuldbekenntnis auf sein eigenes Leben bezog: „Ich will nicht aus der Welt gehen, ohne das, was wir damals (in Barmen) gemeinsam bekannt haben, auch für mich persönlich zu bekennen. Auch ich gebe mir Schuld, daß ich ‚nicht mutiger bekannt, nicht treuer gebetet, nicht fröhlicher geglaubt und nicht brennender geliebt habe‘. … Und weil ich selber jeden Tag aus der Vergebung Gottes gelebt habe, darum bitte ich auch die Menschen, an denen ich mich versündigt habe, mir zu vergeben, wie auch ich vergebe allen meinen Schuldigern. Das ist mein Testament.“
Curriculum vitae
- 15.5.1880 geboren in Berlin
- 1899 – 1906 Abitur, Studium und Promotion in Berlin und Schottland
- 1906 – 1921 Dienst als Pfarrer, u.a. in Crossen, Lauenburg und Berlin
- seit 1921 nebenamtliche Tätigkeit im Berliner Evangelischen Oberkirchenrat
- 1925 Generalsuperintendent der Kurmark
- 1933 beurlaubt, Versetzung in den vorzeitigen Ruhestand
- Mitglied im Brandenburgischen und Altpreußischen Bruderrat der Bekennenden Kirche
- 1945–1966 Bischof von Berlin-Brandenburg
- 1949–1961 EKD-Ratsvorsitzender
- 1954–1961 einer der Präsidenten des Ökumenischen Rates der Kirchen
- 31.1.1967 gestorben in Berlin
Literatur
- Fritz, Hartmut: Otto Dibelius. Ein Kirchenmann in der Zeit zwischen Monarchie und Diktatur. Göttingen 1998.
- Stupperich, Robert: Otto Dibelius. Ein evangelischer Bischof im Umbruch der Zeiten. Göttingen 1989.