Die Zeit der Interimsregierung ist vorbei
Mit der Abschaffung der Interimsregierung wurde einerseits ein seit rund zwei Jahren laufender Diskussionsprozess zu Erfolgen bzw. Misserfolgen der Interimsregierung abgeschlossen, andererseits den Realitäten in Venezuela und im internationalen Umfeld Rechnung getragen. Im Laufe der fast vierjährigen Interimsregierung haben sich die Lage und die Wahrnehmungen in der Region und im Land geändert.
Die Interimsregierung trat mit dem Vorhaben an, eine Transition einzuleiten und nach dreißig Tagen bzw. so bald wie möglich Neuwahlen für das Präsidentenamt durchzuführen. Am 23. Januar 2019 hatte Juan Guaidó, Vorsitzender des venezolanischen Parlaments, sich wegen Nicht-Anerkennung der Präsidentschaftswahlen und des Amtsantritts von Nicolás Maduro am 10. Januar zum Interimspräsidenten ausgerufen. Guaidó, Abgeordneter der Partei Voluntad Popular und bis dahin eher unbekannt, gab der Oppositionsbewegung mit diesem Schritt einen neuen Anschub.
Noch am Tag der Selbsternennung verkündeten die USA, Kanada und eine Reihe von lateinamerikanischen Ländern ihre Anerkennung der Übergangspräsidentschaft. Anfang Februar erklärten auch Deutschland und weitere Länder der EU ihre Unterstützung. Die in Händen der Opposition befindliche Nationalversammlung, in Teilen anscheinend fast überrumpelt, zog nach und verabschiedete am 6. Februar 2019 ein seit einiger Zeit diskutiertes Übergangsstatut zur Demokratie („Estatuto que rige la transición a la democracia …“) mit den Schritten Beendigung der Usurpation, Einrichtung einer Übergangsregierung der nationalen Einheit und Abhaltung freier Wahlen.
Eine De-facto-Übernahme von relevanten Befugnissen gelang jedoch nie. Der Rückhalt verschiedener Akteure, Institutionen und vor allem des Militärs war anscheinend überschätzt worden. Auch die internationale Unterstützung, besonders durch die USA, konnte dies nicht wettmachen. Erfolge der Interimsregierung liegen sicherlich darin, die Interessen von Großteilen der Opposition vertreten und sichtbar gemacht zu haben. Juan Guaidó war unter großem persönlichen Druck fast vier Jahre lang das Gesicht der Opposition, dies auch international, und hat im Land die Stellung gehalten. Bei der Übernahme von Funktionen, wie z.B. Verwaltung von Staatsunternehmen im Ausland, war die Interimsregierung allerdings überfordert. Innerhalb der Opposition kam es in den letzten zwei Jahren zu Vorwürfen bezüglich Intransparenz und Korruption bei der Verwendung von Geldern. Auch diese Aspekte trugen zum abnehmenden Zuspruch in der Bevölkerung bei. Laut Umfrage des Instituts Delphos von November 2022 sprachen sich rund 57 % der Befragten für ein Ende der Interimspräsidentschaft aus.
Internationale Veränderungen führen zur Wiederannäherung
Die USA, bis zuletzt stärkster Unterstützer von Guaidó, führen seit März 2022 direkte Gespräche mit der Regierung Maduro und haben einzelne Sanktionen gelockert. Dies nur mit dem Regierungswechsel im Weißen Haus zu begründen, greift zu kurz. Zeitgleich mit Beendigung der Interimsregierung machten sich zwei Schiffe im Auftrag der US-amerikanischen Erdölgesellschaft Chevron auf den Weg, um Erdöl aus Venezuela zu holen. Die Lage im Hinblick auf Energieversorgung, Rohölpreise, Migration aus Venezuela in Richtung Norden und Sicherheitsfragen in der Grenzregion zwischen Venezuela und Kolumbien haben anscheinend zu einer Annäherung geführt.
Die EU betrachtet seit Januar 2021, dem Zeitpunkt des Zusammentretens der im Dezember 2020 neu gewählten Nationalversammlung, Juan Guaidó als einen wichtigen Vertreter der Opposition. Die EU ist um eine kritische und konstruktive Zusammenarbeit mit Venezuela bemüht. Die Begleitung der Regional- und Kommunalwahlen im November 2021 durch eine Wahlbeobachtungsmission stellte einen wichtigen Schritt dar. Darüber hinaus scheinen Interessen einzelner Mitgliedsländer und geopolitische Fragen auch hier zu einer Wiederannäherung zu führen. Vor wenigen Tagen kündigte Spanien an, wieder auf Botschafterebene mit Venezuela Beziehungen pflegen zu wollen. Und auch ein kleines Zeichen der Annäherung war, dass das Kreuzfahrtschiff Amadea mit überwiegend deutschen Gästen am 3. Januar 2023 bei der Isla Margarita anlegte, was die Rückkehr des Kreuzfahrttourismus nach rund 15 Jahren Abwesenheit bedeutet.
Nach Regierungswechseln in der Region kommt es auch in Lateinamerika zu Wiederannäherungen. Kolumbien hat die Beziehungen zu Venezuela nach Amtsantritt von Präsident Petro normalisiert. Die Landgrenze zwischen Kolumbien und Venezuela, die seit mehreren Jahren geschlossen war, wurde wieder geöffnet. Kolumbien lud Venezuela als Garant für Friedensverhandlungen mit der Guerillabewegung ELN ein. Nach Amtsübernahme durch den linksgerichteten Präsidenten Lula da Silva in Brasilien zeichnet sich auch hier eine Änderung der Beziehungen ab. Die durch die Regierung Bolsonaro anerkannte Guaidó-Botschafterin in Brasilien beendete vor wenigen Tagen ihre Mission, um einem Botschafter der Regierung Maduro Platz zu machen.
Neues auf Seiten der Regierung und im Land
Präsident Maduro kehrte in den letzten Monaten auf die internationale Bühne zurück und setzt auch national verschiedene Änderungen um. Einen öffentlichkeitswirksamen Schritt stellte seine Teilnahme an der UN-Nachhaltigkeitskonferenz COP27 in Ägypten dar. Venezuela pflegt seit Jahren Allianzen mit Iran, Türkei, Russland, China und einer Reihe weiterer Staaten im arabischen und asiatischen Raum und schließt Kooperationsabkommen ab, zeigt sich jedoch vermehrt offen für Gespräche mit den USA und der EU, verbunden mit dem Interesse an einer Aufhebung der zahlreichen Wirtschafts- und personenbezogenen Sanktionen. Auch die geographische Nähe macht letztlich die USA als Handelspartner interessant.
Ab dem Jahr 2020 begann die Maduro-Regierung angesichts der wirtschaftlichen und humanitären Krise im Land einzelne Liberalisierungsschritte im Wirtschaftsbereich umzusetzen, darunter Importerleichterungen und die Tolerierung der De-facto-Dollarisierung, wodurch vor allem der Handel und der Dienstleistungsbereich belebt wurden. Einzelne vor Jahren enteignete Unternehmen wurden zurückgegeben. Zwar sind die Inflationsraten weiterhin sehr hoch, aber die Hyperinflation konnte im Februar 2022 für beendet erklärt werden.
Die häufig zitierte Aussage von Präsident Maduro „Venezuela ist wieder in Ordnung gebracht“ („Venezuela se arregló“) trifft längst nicht für alle zu, aber Verbesserungen der wirtschaftlichen und sozialen Situation sind wahrzunehmen. Diese Fortschritte reichen inzwischen über den Hauptstadtbezirk Caracas hinaus. Laut Umfrage zur Lebenssituation ENCOVI 2022 der Katholischen Universität ( www.proyectoencovi.com/encovi-2022 ) ist die Armutsrate zum ersten Mal seit sieben Jahren gefallen. Die mehrdimensionale Armut (Bemessung von Bildung, Gesundheit, Lebensstandard) liegt bei 50,5 % (2021: 65,2 %), die Einkommensarmut bei 81,5 % (2021: 90,9 %).
Juristische oder politische Frage?
Die verfassungsrechtliche Diskussion, die in den letzten Tagen entbrannte, und in der anerkannte Akademiker die Reform des Übergangsstatuts mit Abschaffung der Interimspräsidentschaft als verfassungswidrig interpretierten und damit die Position von Juan Guaidó unterstützten, war wenig hilfreich. Die Politikwissenschaftlerin Colette Capriles brachte in einem Kommentar auf den Punkt, dass es sich nicht um eine juristische, sondern um eine politische Frage handele.
Ein weiteres häufig zu hörendes Argument gegen die Beendigung, dass die Opposition mit der Reform den Schutz der Aktiva im Ausland aufgebe, ist irreführend. Sanktionen oder die Blockade von Geldern im Ausland hängen nicht vom Bestehen einer Interimsregierung ab, sondern von den jeweiligen ausländischen Regierungen. Die Nationalversammlung von 2015 plant zwei Kommissionen einzurichten, die die Interessen im Hinblick auf die Aktiva weiterverfolgen. Juristisch mag dies nicht stichhaltig sein, letztlich eher eine symbolische Interessenvertretung. Ein Vertreter der US-Regierung ließ jedoch in den letzten Tagen verlautbaren, dass die USA jegliche Entscheidung der Nationalversammlung von 2015 zur Form der Interessenvertretung akzeptieren würden.
Herausforderungen Dialog und Wahlen
Der sogenannte Mexiko-Dialog, der als neuerlicher Versuch zu Gesprächen zwischen Regierung und Opposition mit Vermittlung durch Norwegen im August 2021 initiiert wurde, kam erfreulicherweise im November 2022 nach rund einjähriger Suspendierung durch die Regierung wieder in Gang. Im November wurde ein Abkommen zu sozialer und humanitärer Hilfe unterzeichnet. Eine gemeinsame Kommission von Regierung und Opposition soll die Freigabe von rund 3 Mrd. USD an im Ausland eingefrorenen Mitteln für humanitäre Maßnahmen begleiten. Die Mittel sollen dann durch die UN in Venezuela für Maßnahmen eingesetzt werden. Konkrete weitere Schritte sind noch nicht erzielt worden.
Es ist anzunehmen, dass vor konkreten Fortschritten im humanitären Bereich und Mittelfreigabe parallel zu den deutlich komplizierteren und politisch wichtigen Fragen verhandelt wird: Bedingungen für die Präsidentschaftswahlen im Jahr 2024, Rehabilitierung möglicher Oppositionskandidaten und als besonderes Anliegen die Freilassung von politischen Gefangenen. Vor Freigabe von eingefrorenen Geldern durch die USA werden wahrscheinlich Schritte von der venezolanischen Regierung erwartet. Eine weitere Forderung im politischen Paket ist die Umsetzung von Empfehlungen der EU-Wahlbeobachtungsmission von 2021. Die EU könnte Lockerungen bei personenbezogenen Sanktionen in Aussicht stellen. Alle Seiten werden Zugeständnisse machen müssen.
Im Bereich der Opposition gewinnt nach Einstellung der Interimsregierung das Oppositionsbündnis Plataforma Unitaria (Einheitsplattform), dessen Vertretung die Verhandlungen im Mexiko-Dialog führt, an Bedeutung. Die Einheitsplattform, die sich aus Parteien und zivilgesellschaftlichen Organisationen zusammensetzt, bereitet Vorwahlen der Opposition zur Bestimmung eines gemeinsamen Präsidentschaftskandidaten vor. Die Vorwahlen sollen voraussichtlich gegen Mitte des Jahres 2023 stattfinden. Angesichts einer Reihe von Politikern, die bereits Interesse an einer Kandidatur bekundet haben und der Tatsache, dass in Umfragen keiner mit besonderem Vorsprung hervorsticht, scheint die Bestimmung eines zugkräftigen Präsidentschaftskandidaten schwierig. Eine Reduzierung auf einige aussichtsreiche Bewerber wäre hilfreich.
Im Hinblick auf Vorwahlen und Wahlen gibt es eine Fülle von Herausforderungen. Eine besteht in der Aktualisierung des Wahlregisters, für das der Nationale Wahlrat zuständig ist. Neben Aktualisierung von Daten gibt es eine Reihe von möglichen Erstwählern, die sich registrieren könnten. Hinzu kommt die Frage der Beteiligung von Venezolanern im Ausland. Die Frage ist aufgrund der rund sechs Millionen Venezolaner, die meist aus wirtschaftlichen Gründen seit 2015 das Land verlassen haben, wichtig. Die Wahlmöglichkeit im Ausland hat allerdings logistische und administrative Grenzen. Eine Lösung im Rahmen der bestehenden Regelungen wäre wünschenswert.
Nach Beendigung der Interimsregierung, die einen Bruch innerhalb der G4 genannten Gruppe der vier größten Oppositionsparteien, zwischen Voluntad Popular einerseits und Acción Democrática, Primero Justicia und Un Nuevo Tiempo andererseits, bedeutet, ist eine Einigung innerhalb der Opposition nicht einfacher. Hinzu kommt, dass kaum noch von „einer“ Opposition gesprochen werden kann. Sprichwörtlich sind in Venezuela inzwischen die „verschiedenen Oppositionen“. Dazu zählen die Alianza Democrática mit Parteien, die an den Parlamentswahlen im Jahr 2020 teilgenommen haben und im aktuellen Parlament vertreten sind, Parteien, die ihren eigenen Kurs fahren, und neue Parteien wie Fuerza Vecinal und Alianza del Lápiz. Die Neusortierung der Opposition geht in eine neue Etappe und mag auch Überraschungen bergen.
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