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Essay

Mehr Mises, Milei und Musk wagen?

von Prof. Dr. Hans Jörg Hennecke

Liberales und libertäres Denken und die politische Mitte

Libertäres Denken erlebt seit der Wahl Javier Mileis zum argentinischen Präsidenten im Jahr 2023 weltweit einen sichtbaren Aufschwung. Hans Jörg Hennecke zeichnet libertäre Denktraditionen nach und erklärt die grundlegenden Unterschiede zwischen Libertarismus und Ordoliberalismus. Er argumentiert, dass überbordende Staatstätigkeit und die Tendenz zu autoritärer Identitätspolitik die Renaissance des Libertarismus ausgelöst haben und appelliert an die politische Mitte, dem Gedanken verantworteter Freiheit wieder zur Geltung zu verhelfen.

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Eine Kartonpuppe stellt Javier Milei mit einer Kettensäge dar, mit der Schlange, die seine Partei als Symbol für ihre Ideen übernommen hat. picture alliance/dpa | Sebastian Salguero
Eine Kartonpuppe stellt Javier Milei mit einer Kettensäge dar, mit der Schlange, die seine Partei als Symbol für ihre Ideen übernommen hat.

Sollte der Kanzler künftig auch hierzulande mit der Kettensäge regieren? Ein wenig jedenfalls, so legte es der FDP-Vorsitzende Christian Lindner im vorgezogenen Bundestagswahlkampf 2024/2025 nahe, indem er den argentinischen Präsidenten Javier Milei und den amerikanischen Multiunternehmer Elon Musk als Vorbild für Deutschland empfahl. Der CDU-Vorsitzende Friedrich Merz zog allerdings sogleich eine Brandmauer zu libertären Ansätzen hoch und zeigte sich über Lindners Ansinnen „völlig entsetzt“. Der Abwehrreflex verstärkte sich einige Wochen später noch, als Elon Musk – wohl auch als Retourkutsche für Einmischungen deutscher Spitzenpolitiker in den US-amerikanischen Präsidentschaftswahlkampf 2024 – eine Wahlempfehlung für die AfD aussprach.

Dass die Union sich reflexartig von disruptiven Persönlichkeiten wie Musk und Milei fernhält, ist nur allzu verständlich, ist sie doch ohnehin dem diskreditierenden Verdacht des „Neoliberalismus“ ausgesetzt. Noch immer steckt der Partei das Beinahedesaster der Bundestagswahl 2005 in den Knochen, als sie unter der jungen Angela Merkel die umstrittene „Agenda 2010“ von Gerhard Schröder noch zu übertrumpfen versuchte und dabei einen uneinholbar scheinenden Umfragevorsprung fast vollständig verspielte. Seitdem Friedrich Merz die Führung von Partei und Fraktion 2021/2022 übernommen hat, liegt der Liberalismus-Verdacht gegen die Union wieder in der Luft. So sprach der Politikwissenschaftler Thomas Biebricher, als ob von der FDP derzeit eine magnetische Anziehungskraft ausginge, von einer drohenden „Freidemokratisierung“ der Union.

Wer die Liberalismus-Keule gegen die Union schwingt, ignoriert allerdings, dass die Partei unter Helmut Kohl und Angela Merkel gewiss nicht durch überschäumenden Reformeifer auffiel. Wie der ideologisch unverdächtige Wirtschaftshistoriker Werner Plumpe unlängst dargestellt hat, blickt die Bundesrepublik nach ihren erfolgreichen Anfangsjahren auf eine seit den 1970er Jahren anhaltende Ära zurück, die überwiegend von nachlassender Wettbewerbsfähigkeit, überzogenen Staatsausgaben und einer verfestigten Scheu vor überfälligem Strukturwandel geprägt ist. Der Union kommt daran eine gehörige Mitverantwortung zu. Gleichwohl fällt ihr nicht leicht, auf den Liberalismus- oder Neoliberalismus-Verdacht selbstbewusst zu antworten und als größte politische Kraft auch geistige Führung gegenüber anderen Parteien auszuüben. 

 

Ordoliberale und libertäre Denktraditionen

Wer der Union überzogenen Liberalismus vorwirft, vermengt vieles als schreckerregendes Feindbild miteinander, was besser unterschieden werden sollte. Schon unter dem anfangs hochkontroversen Label „Soziale Marktwirtschaft“ werden viele unterschiedliche Denkansätze zusammengefasst: die kultursoziologische Zeitkritik von Wilhelm Röpke und Alexander Rüstow, die beide die ökonomische Dimension des Lebens in einen größeren Zusammenhang moralischer Ordnung stellten, sodann der von Walter Eucken und Franz Böhm geprägte Ordoliberalismus, der die Notwendigkeit staatlicher Ordnungsmacht gegenüber dem Markt betont, dazu auch die von Joseph Höffner repräsentierte christliche Soziallehre mit ihrem Primat des Subsidiaritätsprinzips über der Solidarität oder schließlich die auf Ausgleich und Konsens bedachte Perspektive Alfred Müller-Armacks, der sein Konzept der „Sozialen Marktwirtschaft“ als „soziale Irenik“, also als friedensstiftenden Wirtschaftsstil verstand.

Neben diesen Ansätzen war ausgerechnet Ludwig Erhard am klarsten und eindeutigsten auf den Begriff der Freiheit ausgerichtet, indem er in der Tradition des freisinnigen Eugen Richter mit der „Sozialen Markwirtschaft“ nicht den Ausgleich eines freiheitlichen und eines sozialen Prinzips im Kopf hatte, sondern die Idee der Freiheit sowohl auf die wirtschaftliche als auch auf die soziale Dimension des Lebens ausgerichtet wissen wollte. Seine Wirtschafts- und Währungsreform von 1948 war ein schlagender Beweis dafür, dass bisweilen auch schnelle, harte und disruptive Umbrüche erforderlich sind, um den immobilen Konsens zu überwinden, langes wirtschaftliches Siechtum zu beenden und Wohlstand für alle wieder erreichbar zu machen.

Libertäre Ideen, die grundsätzliche Kritik am Staat üben und die Grenze zum Anarchismus teilweise überschreiten, schöpfen dagegen aus anderen Quellen. Man findet sie bereits bei den großen Individualisten Michel de Montaigne und Etienne de la Boétie im 16. Jahrhundert angelegt. Für das 18. und 19. Jahrhundert wären William Goodwin, Thomas Jefferson, Henry David Thoreau und Max Stirner zu nennen. Das ideenhistorische Nadelöhr für libertäres oder anarchokapitalistisches Denken im 20. Jahrhundert war der einzelgängerische Ludwig von Mises, ein prominenter Vertreter der Österreichischen Schule der Nationalökonomie. Er selbst vertrat zwar mit seiner fundamentalen und bislang unwiderlegten Kritik an Planwirtschaft und Bürokratie noch ein minimalstaatliches Konzept. Gleiches galt auch für den literarisch begabten Ökonomen Henry Hazlitt und für die radikalindividualistische Schriftstellerin Ayn Rand, die mit ihrem Unternehmerkult im wahren Leben den jungen Alan Greenspan, im fiktionalen Mainstreamkino den rücksichtslosen Kellner Robby Gould aus dem Tanzfilm „Dirty Dancing“ inspirierte. Ihre Schüler und Anhänger überschritten jedoch die Grenze zum Anarchismus. Insbesondere Murray Rothbard und Hans-Hermann Hoppe entwickelten in Anknüpfung an Mises kapitalanarchistische Ansätze. In jüngerer Zeit setzten Titus Geibel und Philipp Bagus diese Linie fort. Von hier aus ist der Weg zum dogmenhistorisch belesenen Milei nicht weit. Anziehungsstark ist libertäres Denken für herausragende Unternehmerpersönlichkeiten wie Elon Musk und den deutschstämmigen Peter Thiel. Man würde aber zumindest dem eklektizistischen und unsteten Musk Unrecht tun, wenn man ihn als konsequent Libertären deuten wollte.

 

Prinzipielle und graduelle Unterschiede

Lange galt libertäres Denken als intellektuelle Spinnerei ohne politische Relevanz. Erst mit der Wahl von Javier Milei zum argentinischen Präsidenten erlebte es im Jahr 2023 seinen politischen Durchbruch. Immerhin gelangen diesem allen Unkenrufen zum Trotz in den ersten beiden Amtsjahren frappierende Erfolge bei der Sanierung des Haushalts, bei der Drosselung der Inflation und bei der Wiederbelebung des Wohnungsmarktes. Inzwischen nimmt er eine ähnliche Rolle ein wie in den 1980er Jahre die britische Premierministerin Margaret Thatcher: Er steht für eine radikale Reformstrategie, die auf die einen abschreckend, auf die anderen begeisternd wirkt und die die lähmende Konsenskultur in verkrusteten Wohlfahrtsstaaten in Frage stellt. In der Regierungspraxis zielt er trotz aller rabiaten Rhetorik freilich nicht auf die Abschaffung des Staats, sondern auf die Zurechtstutzung, Entschlackung und Minimierung der Staatstätigkeit. 

Die Unterschiede zwischen ordoliberalem Denken und libertärem Denken sind denn auch teils prinzipieller, teils gradueller Natur. Prinzipiell sind die Unterschiede, wenn es Libertären darum geht, Freiheit ohne staatlichen Zwang und stattdessen durch marktwirtschaftlich agierende Rechts- und Sicherheitsgemeinschaften zu gewährleisten. Während Ordoliberale und ihnen geistig Nahestehende Freiheit nach dem alten verfassungstheoretischen Grundsatz government of laws, and not of men durch Rechtsstaatlichkeit nach innen und Wehrhaftigkeit nach außen gewährleisten wollen, sehen Libertäre die Freiheit durch den Staat selbst gefährdet und sympathisieren daher mit anarchistischen Visionen der freiwilligen Selbstordnung der Individuen untereinander. Greifbar werden solche prinzipiellen Unterschiede bei der Begründung und Begrenzung von Sozialpolitik oder in der Einstellung zur Schulpflicht. Ein harter Prüfstein, der in Zeiten von Kryptogeld neue Relevanz gewonnen hat, ist die Währungspolitik: Setzen die Ordoliberalen auf ein staatliches Währungsmonopol mit robusten Stabilitätsregeln, misstrauen Libertäre auch in dieser Hinsicht dem Staat und befürworten zur Sicherung des Geldwerts den Wettbewerb privater Währungen oder zumindest – so ein Vorschlag von Friedrich August von Hayek aus den 1970er Jahren – den Wettbewerb staatlicher Währungen untereinander.

Gradueller Natur sind die Unterschiede, wenn Libertäre sich im Sinne Wilhelm von Humboldts damit begnügen, der Staatstätigkeit enge Grenzen zu ziehen. Die Durchsetzung von Rechtsstaatlichkeit, die Gewährleistung von äußerer Sicherheit oder das zwanglose Angebot von sozialen Sicherungseinrichtungen oder von Bildungseinrichtungen wäre demnach auch aus libertärer Sicht unproblematisch. Darüber hinaus gehen die Vorstellungen über die Reichweite der Staatstätigkeit allerdings auseinander: Setzt man in der Wirtschaftspolitik eher auf Interventionismus oder Regelorientierung, beispielsweise in der Energie- und Industriepolitik? Welches Maß an Markteingriffen hält man in der Arbeits- oder Wohnungspolitik für sinnvoll? Wie hoch dürfen Staatsverschuldung und Inflation sein? Von wann an kippt sinnvolle, stabilisierende Konjunkturpolitik in die Verschleppung eines unausweichlichen Strukturwandels um? Wie hält man es mit der wirtschaftlichen Betätigung des Staates auf Monopolmärkten oder in Konkurrenz zu privatwirtschaftlichen Unternehmen? Oder wie stark darf man Einkommen und Gewinne durch Steuern, Abgaben und Sozialbeiträge belasten? Liegt das Optimum der Staatsquote eher um 20 oder um 50 Prozent des Bruttoinlandsprodukts?

Ludwig von Mises, Portraitfoto (um 1940). brandstaetter images/Votava/Süddeutsche Zeitung Photo
Ludwig von Mises, Portraitfoto (um 1940).

Libertäres und autoritäres Denken

Wer den Liberalismus als Feindbild zeichnet, vermengt ihn oft auch mit autoritären Vorstellungen. Der Begriff des „libertären Autoritarismus“, der in den letzten Jahren auf sogenannte Reichsbürger, auf die Pegida-Bewegung oder auf Corona-Leugner gemünzt wurde, trägt jedenfalls eher zur Verunklarung bei. Die Tatsache, dass solche Gruppen Staatstätigkeit an sich in Frage stellen oder Einzelmaßnahmen des Staats kritisieren, sagt noch nichts darüber aus, ob sie eher freiheitlichen oder autoritären Ordnungsvorstellungen folgen. Libertäre können, wie sich in den USA studieren lässt, durchaus Allianzen mit Kräften eingehen, die mit Hilfe des Staates private Lebensentwürfe zu steuern versuchen oder auf restriktive Zuwanderung und auf Protektionismus setzen. Konflikte bleiben dabei allerdings nicht aus: Fremdenfeindlichkeit, rigide Sexualmoral und Autarkiedenken vertragen sich nicht wirklich mit Argumenten für offene Märkte und offene Gesellschaften. Allein schon deshalb liegt Elon Musk falsch, wenn er zur wirtschaftlichen Sanierung Deutschlands ausgerechnet auf die AfD setzt. Echte Libertäre argumentieren dagegen folgerichtig zu ihren Grundprinzipien, wenn sie, wie das Beispiel des zertifizierten Tantra-Lehrers Milei zeigt, in gesellschaftspolitischen Fragen wie Abtreibungs- oder Familienrecht eine sehr progressive, anti-autoritäre Haltung bis hin zur Libertinage haben und in wirtschaftspolitischer Hinsicht für Freihandel eintreten. Es macht also einen wichtigen Unterschied, ob die Staatskritik aus libertären oder autoritären Motiven heraus erfolgt. Die Spannung zwischen libertären und autoritären Ansätzen dürfte jedenfalls auch in der der zweiten Trump-Administration für reichlich Konfliktstoff sorgen.

 

Die Herausforderung für die politische Mitte

Reicht die Rückbesinnung auf die Soziale Marktwirtschaft als Mantra der Mitte noch aus? Oder bieten Mises, Milei und Musk doch Inspiration für eine radikale Reformagenda auch in Deutschland?

Zunächst einmal muss man sich eingestehen, dass libertäres Denken aus der intellektuellen Nische nur herausgetreten ist, weil sich viele Demokratien mit ihrer Staatstätigkeit überfordern. Sie lösen die Wohlstands- und Sicherheitsversprechen nicht mehr ein, auf denen ihre politische Stabilität beruht. In ihrer Mischung aus Verschuldung, Überregulierung und Bürokratisierung werden sie sklerotisch und fragil. Es wäre daher zu bequem, die Kritik an diesen Fehlentwicklungen als billigen Populismus abzukanzeln. Die Kräfte der politischen Mitte dürfen Probleme, die die Menschen umtreiben, nicht ignorieren, sondern müssen sie lösen, ehe sich berechtige Ansatzpunkte für Systemkritik ergeben. Wo Probleme nicht gelöst werden oder gar die Diskussion über sie tabuisiert wird, überlässt man radikalen Kräften immer mehr Terrain und macht sie nur stärker und raumgreifender. Deshalb muss man die Idee der Freiheit auch gegen einen Populismus der Mitte verteidigen, der im Habitus des „Unterhakens“ und „Zusammenhaltens“ echte Reformen verweigert oder mit hilflosem Interventionismus nur an Symptomen herumdoktert.

Das gilt derzeit insbesondere für Fragen von Zuwanderung und Integration. Es steht außer Frage, dass hinter Forderungen nach restriktiver Einwanderungspolitik oder gar nach Remigration von bereits in Deutschland lebenden Zuwanderern oftmals rassistische, fremdenfeindliche Motive stehen, die zu einer offenen Gesellschaft in Widerspruch stehen. Es gibt allen Grund, sich gegen solche Einstellungen zur Wehr zu setzen. Allerdings darf man darüber nicht ausblenden, dass eine falsch oder unzulänglich gesteuerte Zuwanderung die freiheitliche Ordnung gefährdet. Bei aller Toleranz und bei allem Pluralismus braucht es ein breit akzeptiertes und bejahtes Verständnis von Werten, aus denen sich Regeln für ein friedliches Zusammenleben ergeben – eine Leitkultur, die erst Pluralismus und Toleranz ermöglicht und eine Integrationsperspektive eröffnet. Nur dann wird man radikalen Gesinnungen der Staatskritik das Wasser abgraben können.

Ein ernstzunehmender Ansatzpunkt für libertäre Kritik am Staat oder an supranationalen Gebilden wie der EU ist auch der Umstand, dass sich in vielen Demokratien Tendenzen zur paternalistischen Bevormundung der Menschen ausbreiten. Die Erscheinungsformen dieses Trends sind vielfältig. Ein öffentlich und durch Zwang finanziertes Rundfunkwesen, das zu oft Journalismus durch Aktivismus ersetzt, gehört ebenso dazu wie eine immer weiter um sich greifende Nachhaltigkeitspolitik, die den Menschen die richtige Art der Ernährung, der Energienutzung oder der Finanzanlage beibringen und vorschreiben möchte. Auch staatliche Meldestellen für nicht strafbare Meinungsäußerungen oder Verhaltensweisen stellen eine solche Grenzüberschreitung zulasten der Freiheit dar. Die politische Mitte muss für ein solches Abdriften in eine zwangsbewehrte Identitätspolitik sensibel bleiben und darf ihr nicht die Hand reichen. Das belastbarste Argument gegen autoritäre Identitätspolitik ist nicht, dass sie auf die falschen Werte setzt, sondern dass überhaupt staatlicher Zwang zur Steuerung privater Werthaltungen eingesetzt wird. 

Konsistent argumentieren muss man auch, wo es darauf ankommt, dass Freiheit durch Verantwortung für die Folgen des Handelns gebunden ist. Wer, um Währungsstabilität zu sichern, für eine Eindämmung der Staatsverschuldung plädiert und mit Hilfe einer wirksamen Schuldenbremse Konsumverzicht zugunsten künftiger Generationen fordert, der muss das dahinterstehende Prinzip der Nachhaltigkeit durch Haftung auch in der Klimapolitik anwenden und sich zum Verzicht auf den Verbrauch ökologischer Ressourcen bekennen. Er muss für marktwirtschaftliche Suchprozesse und wahrhaftige Preise eintreten und damit Innovationen Wachstum und Wohlstand mit weniger Ressourcenverbrauch ermöglichen.

Die Idee der Freiheit muss unter Einschluss ihrer wirtschaftlichen Dimension als ein Wert an sich verteidigt werden – und nicht bloß mit der geliehenen Autorität des Arguments, dass wirtschaftliche Freiheit die Mittel für eine moralisch überlegene Sozialstaatlichkeit zu erwirtschaften helfe. Wer sich auf letzteres einlässt, unterwirft sich der freiheitsskeptischen Haltung, die die Überdehnung und Krise des Wohlfahrtsstaats herbeigeführt hat. Wer Akzeptanz für Reformen finden will, muss in der Lage sein, den detailverliebten Dirigismus in Frage zu stellen, der uns heute an vielen Stellen begegnet: in der Energiepolitik mit all ihren technischen Bevormundungen, in der Wohnungspolitik mit ihren unzähligen Marktbehinderungen, in dem grassierenden Hang zu protektionistischer Außenhandelspolitik oder in einer rückwärtsgewandten Industriepolitik, die unvermeidbaren Strukturwandel durch Subventionen aufhalten will. Je komplizierter die Welt wird, desto einfacher, robuster und verlässlicher müssen die Regeln sein, mit denen der Staat Anpassungsfähigkeit und Innovationskraft begünstigen kann. Hierin liegt die Alternative zu Regulierungsillusionen, Fremdenfeindlichkeit und Abschottungsdenken von linkem und rechtem Autoritarismus.

Die politische Mitte muss sich dazu nicht den libertären Gurus an den Hals werfen. Es genügt schon eine Aktualisierung der ordoliberalen Erfolgsprinzipien. Die beste Vorbeugung gegen disruptive Bewegungen ist eine stetige Reformpolitik, die auf stabile Staatsfinanzen, tragfähige Sozialversicherungssysteme, wirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit, ökologische Nachhaltigkeit, effektive Rechtsstaatlichkeit sowie die Steuerung und Integration von Zuwanderern achtet. In der politischen Mitte muss stehen, wer die Idee der Freiheit mehrheitsfähig macht.

Hans Jörg Hennecke lehrt Politikwissenschaft an der Universität Rostock. 

 

Quellen und Literatur:

  • https://www.welt.de/politik/deutschland/article254771140/Maischberger-Ich-bin-voellig-entsetzt-gewesen-sagt-Merz-ueber-Lindners-Milei-Vorstoss.html, 5.12.2024.
  • https://www.welt.de/debatte/kommentare/plus254982012/Warum-Elon-Musk-auf-die-AfD-setzt-und-warum-er-dabei-irrt.html, 28.12.2024.
  • Thomas Biebricher: Können Konservative verzichten?, in: Merkur. Zeitschrift für europäisches Denken. November 2024, S. 22–32.
  • Werner Plumpe, Ausgeträumt, in: FAZ, 9.12.2024.
  • Carolin Amlinger/Oliver Nachtwey: Gekränkte Freiheit. Aspekte des libertären Autoritarismus. Berlin 2022.

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