Begriffsklärung und normative Relevanz
Der Begriff Kolonialismus bezeichnet deutungsneutral das Phänomen der Fremdherrschaft, das heißt ein Land (oder eines seiner Teile) wird erobert und der eigenen Herrschaftsmacht unterworfen. Letztere kann direkt über die Installation von Beamten der jeweiligen Kolonialmacht ausgeübt werden oder indirekt im Rückgriff auf bestehende Herrschaftsstrukturen. Wenngleich das Phänomen des Kolonialismus vermutlich so alt ist wie die Menschheit selbst, wurde der Begriff in Ausblendung etwa des osmanischen und arabisch-islamischen Expansionismus zunehmend zu einem Synonym für die Fremdherrschaft europäischer Mächte über Teile Afrikas und der neuen Welt. Aus rechtsphilosophischer Sicht relevant ist dabei die normative Annahme, dass Menschen, die sich anhand essentialistischer Merkmale, das heißt Wesensmerkmale, als eine einheitliche Gruppe definieren, ein Anrecht auf kollektive Selbstbestimmung haben, welches seinerseits in ein Anrecht auf Eigenregierung im Sinne des modernen Begriffs staatlicher Souveränität mündet.
Der Begriff des Postkolonialismus bezog sich zunächst auf die politisch-rechtliche Bekräftigung dieser Anrechte. Zur Überwindung des Prinzips der Fremdherrschaft wurde das Selbstbestimmungsrecht der Völker in Artikel 1 der beiden UN-Menschenrechtspakte von 1966 als ein sogenanntes kollektives Menschrecht im Völkerrecht verankert. Dieses sollte vormals fremdbeherrschten Völkern die ihnen allein zustehende politisch-rechtliche, sozio-kulturelle und ökonomische Oberhoheit über ihr Staatsgebiet sowie sämtliche sich darauf befindliche Ressourcen zusichern.
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Die sozio-kulturelle Wendung
Beginnend mit den fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts wurde die Aufarbeitung des europäischen Kolonialismus in Verbindung von philosophischem Existentialismus und Phänomenologie mit der Psychoanalyse um einen sozio-kulturellen Aspekt angereichert. So arbeitete insbesondere Fanon im Rückgriff auf seine psychiatrische Praxiserfahrung die Verinnerlichung von Stereotypen durch Kolonialisierte und Kolonisatoren und deren mannigfaltige Konsequenzen für das jeweilige Selbstverständnis heraus. Seine Analyse findet eine (frühere) Entsprechung im philosophischen Feminismus Simone de Beauvoirs. Beide lieferten wichtige Erkenntnisse zur Dynamik von Unterdrückungsmechanismen im Zuge von Machtausübung sowie Ansätze zu deren Durchbrechung.
Indem de Beauvoir mit der Unterscheidung zwischen biologischen Fakten und sozialer Zuschreibung den Eigenanteil der Frau an der Aufrechterhaltung der Herrschaftsdynamik thematisierte, nahm sie diese in die Pflicht der aktiven Selbstbefreiung und bekräftigte zugleich eine menschliche Wesensgleichheit. Fanon dagegen ebnete durch seine spätere Hinwendung zur sozialistisch-revolutionären Ideologie und eventuelle Idealisierung der afrikanischen Bauernschaft als alleinmögliche Trägerin der Befreiung durch gewaltsamen Aufstand den Weg zu einer Pauschalkategorisierung von Opfern und Tätern. Wo frühe Theorieansätze die Wechseldynamik von Macht und Individuum in ihrer universalmenschlichen Komplexität zu erfassen und aktiv zu durchbrechen suchten, baut der Postkolonialismus heute vorwiegend auf eine statische Definition von Opfer- und Tätergruppen anhand essentialistischer Merkmale im Sinne von Identitätspolitik. Ein wortwörtliches Schwarz-Weiß-Denken blendet dabei die grundlegende Nuanciertheit der Welt und Dynamik des menschlichen Miteinanders in gleichem Maße aus, wie es die Komplexität individueller und kollektiver Identität ignoriert.
Mit der Verschiebung von der handlungsbasierten Verantwortlichkeit autonomer Individuen hin zur strukturellen Verantwortlichkeit heteronomer Kollektive wurde die formale Zugehörigkeit zu Opfer- oder Tätergruppen zum Kriterium für Kollektivschuld oder Schuldausschluss. Zugleich mündete die psychiatrische Pathologisierung individueller Kolonialismuserfahrungen in die Praxis einer Objektivsetzung von subjektiven Befindlichkeiten und eine immer kleinteiligere Identifikation neuer Opfergruppen. Wer sich benachteiligt oder gekränkt fühlt, ist als Opfer anzuerkennen. Als „weiß“ deklarierten Individuen bleibt der Opferstatus durch die Kollektivierung indessen grundsätzlich verwehrt, sofern sie nicht als zumindest „nicht-binär“ einen Platz am unteren Ende der Opferhierarchie beanspruchen können. Bezeichnend hierfür sind etwa die unverhohlen antisemitische Brandmarkung von Juden als weiße Kolonialbesatzer oder von „traditionellen“ Feministen als Diversitätsfeinden.
Der Postkolonialismus als eigenständige Disziplin
Entscheidenden Einfluss auf die Etablierung der Postkolonialen Theorie als akademische Forschungsrichtung hatte E. W. Said. Im Rückgriff auf Foucaults Diskursanalyse identifizierte er in Orientalism (1978) eine angeblich im westlichen Wissensbegriff und -system aufgehobene, politischen Grundlagen aufruhende europäisch-koloniale Wissensproduktion. Die als inhärent gewalteingetrübt behauptete Definitionsmacht einer somit als spezifisch westlich charakterisierten Wissenschaft rückte mit dem Begriff der „epistemischen Ungerechtigkeit“ Philosophie und Geisteswissenschaften in den Fokus einer nochmals weiter gefassten Dekolonialisierungsaufgabe. Diagnose und Tilgung des behaupteten westlichen Wissensmachtmissbrauchs erfordern demnach die Bereinigung der Epistemologie (Erkenntnistheorie), also jener Unterdisziplin der theoretischen Philosophie, die sich mit Erkenntniserlangung und Grundbedingungen des Wissens beschäftigt, mithilfe der normativen Begriffe und Methoden der praktischen Philosophie.
Der westliche Kolonialismus und seine Folgen werden (sonstige Kolonialismen ausblendend) seit Jahrzehnten in den geisteswissenschaftlichen Disziplinen reflektiert und sind mit jeweils disziplinrelevanten Werken in deren Kanon vertreten. Vergleichende Einbezüge nichtwestlicher Denktraditionen haben in der deutschen Kultur- und Geistesgeschichte insgesamt eine lange Tradition. Die von genuiner Neugier und Erkenntnisinteresse am Fremden motivierten Dokumentierungs- und Konservierungsleistungen vergangener Jahrhunderte werden heute indessen zu Indizien eines vermeintlichen Überlegenheitsdenkens umgewertet. Die Anerkennung von Andersartigkeit wird dabei einerseits eingefordert, ihre Benennung aber zugleich als imperialistische Selbstüberhöhung des Westlichen zur Norm kritisiert. Abbitte ist nur möglich, indem westliche (Wissens-)Kulturleistungen durch die Linse der zum objektiven moralischen Standpunkt erhobenen Kolonialopferperspektive als unterdrückungsperpetuierend entzaubert werden.
Mit diesem gnadenlosen – zuvor dem Westen als imperialistisches Machtinstrument unterstellten – Anspruch auf absolute Deutungsoberhoheit verwickeln Eigeninteressenlosigkeit behauptende Befreiungsaktivisten den Postkolonialismus in einen performativen Selbstwiderspruch. Epochale Werke der Europäischen Geistesgeschichte werden in anachronistischer Überheblichkeit aus dem Rückspiegel der Geschichte seziert, oftmals einzelne Worte und Sätze aus ihrem geschichtlichen und disziplinären Kontext herausgeklaubt und zur Erzählung einer entsetzlichen Weltenverschwörung wieder zusammengesetzt, so als seien sie Steinbrüche, aus denen es sich nur beliebig zu bedienen gelte. Frühere Denker werden mit zeitgeistig erhobenem Zeigefinger gemäß unterschiedlichen -ismen kategorisiert, die von ihren Errungenschaften getragenen Wissenschaften als willige Helfer strukturellen Unrechts angeklagt. Es wird über die „wahren Beweggründe“ eines Denkers wie Kant küchenpsychologisiert oder eine westlich-rassistische Natur der Mathematik entlarvt. Selbstermächtigte Aktivisten fordern in kolonialherrenwürdiger Stellvertretung (Allyship) die von den „Verdammten dieser Erde“ – so der von Frantz Fanon in Anlehnung an die „Internationale“ gewählte Titel eines Spätwerkes – erhoffte umfassende Dekolonialisierung des Wissensuniversums.
Gefährdung der Wissenschaftsfreiheit durch ideologische Agenden
Die Wissenschaftsfreiheit gerät spätestens dann in Gefahr, wenn die Rekonstruktion eines disziplinären Kanons durch den Ausschlussfilter des Postkolonialismus und seiner Begleit-ismen gefordert wird. Die damit verbundene Engführung dienstleistet einer seit Jahrzehnten vorangetriebenen Agenda zur Auflösung insbesondere der verschiedenen geisteswissenschaftlichen Disziplinen in einer Universallehre, die vermeintlich alles – und damit gar nichts – weiß oder lehrt. Wo Dozenten vormals ihre Lehrveranstaltungen in Verschränkung mit der eigenen Forschung gestalten, und dabei alternative Traditionen und -ismen thematisieren konnten, fällt der wissenschaftliche Pluralismus – und damit die Wissenschaftsfreiheit selbst – ohnehin bereits zunehmend einem bürokratistischen Standarisierungswahn zum Opfer. In der Philosophie etwa führte die – wider jeden wissenschaftlichen Sachverstand politisch aufgezwungene – Bologna-Reform bereits zu einem überaus kursorischen Kanon. Anderen geisteswissenschaftlichen Disziplinen wird es nicht besser ergangen sein. Postkolonialistische Anreicherungen von Curricula drohen über die Dezimierung des jeweiligen disziplinären Kernkanons die Entwissenschaftlichung des Universitätsstudiums fortzuschreiben, welches durch seit Jahren fortschreitende Verschulungsinitiativen bereits viel seiner ehemaligen Seriosität eingebüßt hat. Die Produktion von meinungspolitischen Röhrenverstärkern anstelle der Förderung kritisch-autonomer Wissenseliten aber gefährdet gesellschaftlichen Fortschritt und Zusammenhalt.
Wo Wissenschaft sich über ein unreflektiertes Primat von Bürokratismus und Verwertungsökonomismus hinaus zusätzlich noch identitätspolitischen Gesellschaftsumbauwünschen fügen soll, wird nicht mehr Wissen geschaffen, sondern werden nur noch Interessengruppenaufträge abgearbeitet, und das wissenschaftsunerlässliche Prinzip der Ergebnisoffenheit endgültig zum Abschuss freigegeben. Die Nötigungsabsicht angeblich unverbindlicher Empfehlungen offenbart sich, wenn wissenschaftsexterne Diversitätsaktivisten ohne jedweden disziplinären oder generell wissenschaftlichen Bezug zum Vortrag in für das wissenschaftliche Personal verpflichtende Institutsveranstaltungen eingeladen werden oder deren aktive Beteiligung am Wissenschaftsbetrieb gefordert wird.
Die Wissenschaftsfreiheit wird auch durch eine zunehmend aggressive Forderungspraxis studentischer (oftmals aber tatsächlich universitätsexterner) Ideologieakteure bedroht. Vielfache Ausladungen von nichtgenehmen Wissenschaftlern, Absagen ganzer wissenschaftlicher Veranstaltungen infolge aggressiver Agitation und vieles mehr bestätigen regelmäßig eine Etablierung der angeblich eingebildeten Cancel Culture. Studentische Forderungen ruhen dabei nicht immer gefestigten ideologischen Überzeugungen auf. Oftmals verdanken sie sich Peergruppendruck oder sind Teil von Lifestyle- und Nachahmungsphänomenen. Man betrachte etwa die im Nachgang der Unruhen an amerikanischen Universitäten von Rom bis Oslo im Namen eines geschichtsignoranten postkolonialistischen Befreiungskampfes aufspringenden „Protestcamps“. Nun ist das für den menschlichen Fortschritt unerlässliche Aufbegehren Privilegium einer zwangsläufig noch beschränkten jugendlichen Weltperspektive. Dass den Versuchungen eines populistischen Bandwaggons (oder seinem medialen und tätlichen Drohpotential) auch Hochschulleitungen und Politiker erliegen, gibt allerdings Anlass zur Sorge. So reiht sich zwar die jüngste Vandalisierung der HU Berlin in eine jahrelange Praxis ein. Mit der Besetzung von Instituten und tätlichen Bedrohung von Universitätsbediensteten sowie der – inzwischen immer häufiger gewalttätigen – Bedrohung von Studenten durch ihre eigenen Kommilitonen ist aber eine neue Eskalationsstufe erreicht. Dass dies immer häufiger seitens der für beider Sicherheit verantwortlichen Universitätsleitungen von Massachusetts bis Berlin geduldet oder sogar beklatscht wird, sollte in Erinnerung an dunkle Zeiten der deutschen Universitätsgeschichte ein unüberhörbarer Weckruf sein. Seit Jahrzehnten periodisch wiederkehrende Forderungen, individuelle und institutionelle Kooperationen mit israelischen Kollegen und Institutionen im Namen eines antiimperialistischen Befreiungskampfes aufzukündigen, sind hierbei mehr als bloßer Gewaltkatalysator, machen sie doch das im Zuge der Europäischen Aufklärung verworfene Prinzip der Kollektivschuld wieder hoffähig.
Die skizzierten Entwicklungen schlagen sich nieder in einer zunehmenden Tabuisierung einzelner Themen und Begriffe sowie eigentlich befreundeten Kollegen, die sich untereinander nur noch vorsichtig herantastend und hinter vorgehaltener Hand äußern. Der vorauseilende Gehorsam hat auch bereits in den Schulen Einzug gehalten. So belegt etwa eine neue Studie, dass eine Mehrheit der Schüler in Norwegen sich aus Angst als politisch inkorrekt zu erscheinen nicht mehr frei äußert und im Schulalltag Selbstzensur übt.Mehr Aufklärung wagen
Den physischen Kolonialismus kritisierte bereits Kant in seiner Rechtslehre (1797) als Übergriff auf die kollektive Selbstbestimmung eines Volkes, der nicht einmal gegenüber dem besiegten ungerechten Feind (das heißt Aggressor) zu rechtfertigen ist. Die Kritik eines psychischen sowie intellektuellen Kolonialismus als Verletzung von individueller Autonomie wäre ohne Kants Philosophie der Freiheit nicht schlüssig denkbar, ist aber dennoch implausibel. Erstere entbindet die Opfer von der durch de Beauvoir noch eingeforderten Autonomieassertionspflicht. Letztere impliziert begriffsanalog, die Wissenschaften seien ein gewaltsam eingenommenes Territorium, das es von Fremdherrschaft zu befreien gelte. Die vorgeschlagene epistemische Herrschaftsübernahme durch Postkolonialherren verkennt die Natur der Wissenschaftsgeschichte als gesamtkulturelle Leistung und führt zugleich die seitens des Neukantianismus geforderte Würdigung der Autonomie pluraler Wissenskulturen durch eine weitere Opferhierarchisierung ad absurdum. Wo die einzigartige Definition einer normativen Würde des Menschen an sich sowie des besseren Arguments unabhängig von deren personalen Trägern zugunsten einer ethisch verbrämten, identitätsideologisch motivierten Idee von Ergebnisgerechtigkeit rückabgewickelt werden soll und von einer (selbsternannten) Moralschickeria festgesetzte essentialistische Merkmale zum moralischen Trumpf avancieren sollen, kann man nur noch bei Kant Zuflucht nehmen: Sapere Aude!
Carola Freiin von Villiez ist nach Professuren an der Universität Duisburg-Essen und der Universität Oslo derzeit Professorin für Philosophie an der Universität Bergen (Norwegen). Ihre Forschungsschwerpunkte liegen in der Rechtsphilosophie (insb. des Völkerrechts), der Politischen Philosophie sowie Kant, Adam Smith, Radbruch und John Rawls.
Literatur
De Beauvoir, Simone: Das andere Geschlecht. Sitte und Sexus der Frau. Hamburg, 2000.
Fanon, Frantz: Die Verdammten dieser Erde. Frankfurt/M., 1981.
Said, Edward W.: Orientalism. Western Conceptions of the Orient. London, 1995.