Glaubt man den hiesigen Geisteswissenschaften, ist das koloniale Zeitalter in den USA und im Westen nicht vorbei, sondern durchdringt Institutionen und Gesellschaften, Gebräuche und Geschmäcker, Körper und Gesten. Die Dekolonisierung aller Lebensbereiche ist folglich das Gebot der Stunde. Die akademische Suchmaschine Google Scholar weist für das Stichwort „decolonization“ für die Jahre 2020-24 über 39.000 Einträge auf (und nur 17.000 für „postcolonialism“). TedTalks[1] oder Zeitungen wie die New York Times und das Magazin The New Yorker besprechen regelmäßig die Dekolonisierung der Mode, des Essens, der Städte.[2] Indigene Stämme postulieren die Abkehr von kolonialer Ernährung und die Hinwendung zu diversem, traditionellem Essen. Die Klimapolitik gehört dekolonisiert[3], braucht das Wissen indigener Völker. Museen sind ohnehin koloniale Artefakte, die Kunst an sich, die gesamte Darstellungswelt muss von unterdrückerischen, White Supremacy verherrlichenden Strukturen bereinigt werden, die künstliche Intelligenz ebenso, Theaterbühnen, Arztpraxen[4] und Sportvereine, Make-Up, Design, Gesichter, Körper und Gedanken auch. Wütende und viel beachtete Dokumentationen wie Raoul Pecks Exterminate all the Brutes (2021) diagnostizieren White Supremacy als fortdauernde, die Welt rassifizierende Wurzel allen Übels, die endlich gezogen werden muss. Innerhalb der Geisteswissenschaften verweisen indigene Forscher im Zuge der „indigenen Bewegung“[5] – die nolens volens die Aggressionen der Gegenwart mitbefördert – auf den in westlichen Gesellschaften fortdauernden settler colonialism und Akademiker wie die des Plagiats an Minderheiten-Autoren angeklagte (dann reingewaschene) Robin di Angelo deklarieren die „Zerbrechlichkeit“ des Weißseins, und dass der Satz „ich bin nicht rassistisch“, wenn von einem weißen Menschen ausgesprochen, immer nur rassistisch gemeint sein kann.
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Dekonstruktivismus und symbolische Dekolonisierung: Von der French Theory zur „Dekolonisierung“ amerikanischen Denkens
Die Dekolonisierung ist an amerikanischen Hochschulen binnen weniger Jahre das Mammutprojekt postkolonialer Studien geworden; inhaltlich bedeutet sie die Entfernung von Strukturen, die dazu beitragen, Menschen, Orte und Landschaften zu unterwerfen, um sie gerecht, im Sinne von gleichberechtigt und divers, wiederzuerschaffen. Das ist jedoch leichter gesagt als getan, denn bisher funktionierte der Dekolonisierungs-Diskurs als inter-elitärer, rein performativer Gestus, der einst unterdrückte und ausgebeutete Völker höchstens auf symbolischer Ebene – als Palaver – entschädigte, nie aber konkret. „Dekolonisierung“ kann Fragen nach Identität und Zugehörigkeit oberflächlich beantworten, während ein woker Progressivismus im unverbindlichen Gewand der Pseudo-Revolution auftreten kann.
Zunächst hatte im Zuge der Befreiungskämpfe der 1960er Jahre der in den USA als French Theory aufgeschlagene Dekonstruktivismus die postkoloniale Theorie und Fächer wie Black Studies, Native American Studies, Chicano, Indigenous und Asian American Studies hervorgebracht. Edward Saids Orientalism (1978) und Gayatri Spivaks Can the Subaltern Speak? (1988) stellten schließlich Fragen nach der Ambivalenz und Hybridität des unterworfenen Subjektes. Während eine ambivalente Hybridität, ein Weder-Noch des Subjekts, eine Form der Entwicklung und des Fortschritts hin zu einem Stadium jenseits der Dichotomie Kolonisator – kolonisiertes Subjekt suggerieren kann, ist die sich von den traditionellen postkolonialen Studien zunehmend abspaltende Dekolonisierung statisch am vermeintlich immer noch unterworfenen Subjekt ausgerichtet.
So deklariert die Harvard Universität auf ihrer Website, dass ihre Gebäude auf indigenem Land stehen: „located on the traditional and ancestral land of the Massachusett, the original inhabitants of what is now known as Boston and Cambridge“. Die Universität „pay(s) respect to the people of the Massachusett Tribe, past and present, and honor(s) the land itself which remains sacred to the Massachusett People“ – auf den Gedanken, dieses Land den rechtmäßigen Eigentümern zurückzugeben, kommt Harvard nicht. Ähnlich und ebenfalls ohne Restitutionsgedanken anerkennt die Stanford University „that Stanford sits on the ancestral land of the Muwekma Ohlone Tribe. This land was and continues to be of great importance to the Ohlone people”.
Auch in Manhattan dient der Stamm der Lenape als Feigenblatt für gelungene Inklusions- und Diversitätspolitik; die New York University (NYU) sowie die Columbia Universität sponsern zusammen mit dem Metropolitan Museum über die Stadt verteilte „Acknowledgement Plates“, die Lenape als wahre, eigentliche Bewohner Manhattans ausweisen. Die Lenape selbst kämpfen gegen den „Mythos“, die Holländer hätten ihnen für ein paar Dollar Manhatta abgekauft. Sie sprechen von Genozid. Auf einer Ansprache im New Yorker Rathaus im Native American Heritage Month im November 2024 forderte der Stamm der Lenape die „Dekolonisierung“ amerikanischen Denkens; Bürgermeister Eric Adams antwortete ausweichend.[6] In Manhattan lebt bis heute der jeweilige Häuptling der Lenape.
Nach dem Hamas-Angriff vom 7. Oktober 2023: Terrorpropaganda statt akademischer Worthülsen
Doch Dekolonialisierung – so sah es ihr Wortschöpfer Frantz Fanon – kommt ohne Gewalt nicht aus, vom ihm stammt der Satz „Entkolonialisierung ist immer ein gewalttätiges Phänomen“. In Die Verdammten dieser Erde (1961) führt er aus, was er mit Dekolonisierung meint – eine Art Tabula rasa alles Gewesenen: „Wo man auch hinsieht: persönliche Begegnungen, Neubenennungen von Sportclubs, Zusammensetzung der Cocktail-Parties, der Polizei, der Aufsichtsräte staatlicher oder privater Banken - die Dekolonisation ersetzt ganz einfach eine bestimmte Art von Menschen. Ohne Übergang findet ein totaler und vollständiger Austausch statt.“ Ziel ist: „Das Auftauchen einer neuen Nation, die Errichtung eines neuen Staates, seine diplomatischen Beziehungen, seine politische und wirtschaftliche Orientierung“.
Dann beendete das Massaker der Terrororganisation Hamas vom 7. Oktober 2023 die Worthülselei amerikanischer Universitäten. In den Monaten nach der Ermordung, Vergewaltigung und Folter israelischer Bürger durch Hamas-Terroristen feierten auf amerikanischen Universitätscampussen protestierende linke pro-Hamas Aktivisten (Studierende und Lehrende) die Gewalt gegen den „israelischen Kolonisator“, zitierten Frantz Fanon, trugen beizeiten „I love Hamas T-Shirts“ und fordern bis heute zusammen mit der Dekolonisierung Palästinas das Ende – den „Tod“ – des einzigen jüdischen Staates[7]. Währenddessen warteten und zögerten die Universitätsleitungen, die Proteste zu verurteilen und die Demonstrationen aufzulösen. Denn, so dachten sie, war nicht etwas dran an all dem? Waren die Toten, die vergewaltigten, verbrannten, verschleppten israelischen Männer, Frauen und Kinder nicht Kolonisatoren, direkt oder indirekt, der Palästinenser, letztere die eigentlichen Indigenen des Landes, auf dem sie unterdrückt werden?
In einem Artikel im Compact Magazine vom 11. Oktober 2023 beschreibt der ehemalige NYU-Professor Geoff Shullenberger nicht nur die Popularität der „Dekolonisierung“ innerhalb der Geisteswissenschaften und der Gesellschaft, sondern konstatiert auch deren explosionsartige Ausbreitung seit dem 7. Oktober 2023, einhergehend mit der Propagierung von Terror als Mittel der Befreiung.[8]
Von #MeToo zu #BlackLivesMatter: Gewalt als politisches Mittel gegen das westlich-weiße Patriarchat
Die Gewalt gegen den „weißen Kolonisator“ fordernden Reaktionen auf den 7. Oktober 2023 offenbaren einerseits das Ausmaß und die Irreversibilität westlichen Selbsthasses, zu der die seit Jahren voranschreitende, immer problematischere Verknotung aus übertriebener politischer Korrektheit (die in den 1990er Jahren begann), auf die Spitze getriebener Identitätspolitik und exzessiver Cancelei sowie die Tyrannei des sogenannten DEI-Gebots an Universitäten und Institutionen[9] (der bedingungslosen Verpflichtung zu Diversität, Gleichheit und Inklusion) im Namen des Kampfes gegen weiße Vorherrschaft, das Patriarchat, den Phallus geführt haben. Wie kam es dazu?
Im Jahr 2017 war mit #MeToo, so der mediale Tenor, eine Welle der Wut, die sich schon lange angebahnt hatte, zur einer nie dagewesenen „Bewegung“ geworden und damit zur bisher größten Herausforderung an die Sozialordnung des 21. Jahrhunderts: Frauen, people of color und die Transgemeinde prangerten gemeinsam den in westlichen Gesellschaften grassierenden patriarchalen Machtmissbrauch an, die Geschlechterverhältnisse sollten auf immer verändert werden.
2020 lenkte die Covid-Pandemie die Aufmerksamkeit abermals auf strukturell benachteiligte Menschen: Die Armen starben, in den USA waren dies meist people of color, die häusliche Gewaltrate gegen Frauen stieg während des Lockdowns massiv und auch hier handelte es sich meist – aber nicht ausschließlich – um einkommensschwache Frauen und people of color. Ebenfalls 2020 und ausgelöst durch die Ermordung des Afroamerikaners George Floyd durch einen weißen Polizeibeamten fand die bereits seit 2013 existierende #BlackLivesMatter-Bewegung internationale Beachtung. Die BLM-Bewegung fordert ebenso wie die anti-israelischen Proteste Gewalt als politisches Mittel gegen die vermeintliche Dominanz des westlich-weißen Patriarchats und setzt diese auch um.
Zudem verweisen obige Entwicklungen auf eine Spaltung innerhalb der postkolonialen Studien. Einander entgegengesetzt sind der poststrukturalistische Ansatz und die damit zusammenhängenden Themen Hybridität, Repräsentation und Wissen als Macht und die marxistisch beeinflusste Theorie der Dekolonisierung und ihre Themen Revolution und (politische) Identität, die einhergehen mit der Ablehnung des Nationalstaates und der Propagierung einer vor der Geographie nahezu abgelösten „globalen Indigenität“ und dem daraus abgeleiteten Recht zur Gewalt.Kolonialer Befreiungskrieg in Algerien als Katalysator
Der europäische Kolonialismus als religiös-ideologisch motivierte Landnahme und politischer sowie ökonomischer Herrschaft über fremde Bevölkerungen begann mit den Kreuzzügen, gefolgt von der Erschließung Amerikas durch spanische Siedler im frühen 16. Jahrhundert, der Nordamerikas durch europäische Siedler ab dem Beginn des 17. Jahrhunderts, der Ausbreitung und Konsolidierung des British Empire und dem imperialistischen Wettrennen des industriellen Zeitalters, außerdem der alles begleitenden Ausbeutung Schwarzafrikas und dem nordamerikanischen Sklavenhandel. Von Beginn an übten liberale Philosophen und Staatstheoretiker Kritik an der europäischen Vorherrschaft – oder rechtfertigten die koloniale Praxis.
Der Algerienkrieg (1954-1962) ist rückblickend die intellektuelle Geburtsstunde postkolonialer Studien. Diesen Unabhängigkeitskrieg gegen die französischen Kolonialherren, während dem „Rebellen“ Bombenanschläge gegen Zivilisten verübten, wie den in der Milk Bar in Algiers am 30. September 1956, kommentierte der in Algerien geborene, aber in Frankreich lebende Philosoph Albert Camus. Die terroristischen Bomben, so Camus, könnten seine in Algiers lebende Mutter töten. Er selbst glaube zwar an die algerische Sache, nicht aber an den Terror. Am 12. Dezember 1957, zwei Tage nachdem er den Nobelpreis erhalten hatte, beantwortete er die Frage eines Studenten mit dem berühmten Satz: „Den Terror habe ich immer verurteilt. (…) Ich glaube an die Gerechtigkeit, aber vor der Gerechtigkeit werde ich meine Mutter verteidigen.“
Anders Jean-Paul Sartre. In seinem Vorwort zu Frantz Fanons komplexem Essay Die verdammten dieser Erde (1961) schrieb er tumb-provokant, aus der bequemlichen Ferne seines Pariser Appartement die – von der Philosophin Hannah Arendt kritisierte – Anmerkung: „Einen Europäer erschlagen, heißt zwei Fliegen auf einmal treffen, nämlich gleichzeitig einen Unterdrücker und einen Unterdrückten aus der Welt schaffen. Was übrig bleibt, ist ein toter Mensch und ein freier Mensch.“
Zusammen mit Sartre war der aus Martinique stammende Psychiater Frantz Omar Fanon, Direktor im Bilda-Joinville Krankenhaus nahe Algiers, einer der wenigen französischsprachigen Intellektuellen, der den Kampf der Rebellen guthieß. Für Fanon war jeder in Algerien ansässige Weiße (etwa eine Million Franzosen) gleichzusetzen mit einem feindlichen Soldaten, der getötet werden könne und solle. Die „Gewaltmaschine“ der Kolonisierung, so Fanon, traumatisiere den Unterdrücker und das unterdrückte Subjekt gleichermaßen (sowohl auf kollektiver als auch auf individueller Ebene), doch ersterer erkenne die Konsequenzen seines Handelns nicht, letzterer bekomme sie zu spüren. Die so erniedrigten und entmenschlichten Unterdrückten hätten in ihrem Kampf um Freiheit keine andere Wahl, als Zivilisten anzugreifen. Nicht nur das: Gegen Kolonisatoren gerichtete, tödliche Gewalt und terroristische Angriffe wirkten für Fanon kathartisch und waren nicht bloß taktisch, sondern auch moralisch geboten.[10]
Legitimierung von Gewalt und Terror: Fortdauernder Einfluss Frantz Fanons auf die postkoloniale Agitation
Obwohl zwischen 1957 und Algeriens Unabhängigkeit im Jahr 1962 vierundzwanzig afrikanische Kolonien befreit wurden, und nur vier davon mit Gewalt, war für Fanon der friedliche Kampf gegen koloniale Unterdrückung – wie zum Beispiel der in der französischen Karibik – närrisch, geradezu idiotisch. Er bevorzugte die USA, ein Land, über das er ansonsten wenig schrieb, das sich ihm aber aus der Ferne – so schreibt er in „Schwarze Haut, Weisse Masken“ als „Schlachtfeld“, darbot, „an allen vier Ecken abgesteckt von ein paar Negern, die an den Hoden aufgehängt worden sind“.
1943 war Fanon aus Martinique geflohen. In Dominica trat er den Forces françaises libres unter General de Gaulle bei und wurde von einem Schrapnell verwundet. Er ging nach Europa. In Lyon zeigte ein Mädchen auf ihn und rief: „Mama, schau, ein Negro! Ich habe Angst!“. Die Abschätzigkeit und der Rassismus, die Fanon in Frankreich, aus der Ferne bewundert und verehrt, entgegenschlugen, erschütterten ihn nachhaltig.
Nach dem Anschlag in der Milch Bar verließ Fanon seinen Posten im Krankenhaus und schloss sich formal den Rebellen an, kämpfte aber nicht. Obwohl Fanon, dessen erster selbstgeschriebener Satz als Kind in Martinique „je suis français“ war, nur zwei wesentliche Werke publizierte, neben Die Verdammten dieser Erde noch das Buch Schwarze Haut, weiße Masken (1952), und mit nur sechsunddreißig Jahren zu früh verstarb, ist der Einfluss seines insbesondere heute zu oberflächlich interpretierten Werkes auf antikoloniale Bewegungen und antirassistische Kämpfe tief und fortdauernd.
Die Brutalität, die Fanon für den dekolonialen Befreiungskampf imaginierte, war in Algerien Realität. Die Attentäterin der Milk Bar wurde zusammen mit ihren Kameradinnen von französischen Soldaten befragt, gefoltert und vaginal mit Flaschen verletzt. Folter, so Fanon, schaffe die nötige Klarheit, auch auf Seiten der Unterdrückten, und sei so etwas wie ein Realitätscheck: „With his back to the wall, the knife at his throat, or to be more exact the electrode on his genitals, the colonized subject (…) discovers reality”. Gewalt, Folter und Vergewaltigung waren für Fanon die einzig möglichen Wege, in dem unterworfenen Subjekt den Willen zur Befreiung seiner Selbst zu regen, um kolonialer Gewalt mit noch größerer Gewalt zu begegnen, bis hin zum Showdown: Dem Sturz der Kolonialmacht, des Imperiums.
Frantz Fanon: Ambivalenzen seines Lebens und seiner Werke
Den Bösewicht wie in einem James Bond Film mit lautem Tamtam in einem blutigen Strudel fleischfressender Piranhas untergehen zu sehen und danach atmen alle befreit auf, ist sicherlich verlockend. Aber der Großteil der Fanon jüngst wiederentdeckenden Forschungsaufsätze und journalistischen Arbeiten verkennt den Kolonialismus beziehungsweise Imperialismus als komplexes und widersprüchliches Gewebe aus Handelsräumen und Währungen, aus Landrechten und Kulturen, Hass und Zuneigung, aus Identitäten und Ambivalenzen.
Stattdessen beharren Autoren auf Fanon als Held des globalen Südens und beklagen die gelegentliche Reduktion von Fanons Werk auf Fragen der Blackness, „rather than follow the ways in which American empire is inscribed in the long history of Western violence in the Middle East and North Africa (…) to erase the global horizons of emancipation“.[11] In dem Vorwort zur Neuauflage der im Jahr 2000 erschienenen Biographie Frantz Fanon der algerischen Psychoanalytikerin Alice Cherki wird von der „Notwendigkeit der Gewalt als Mittel zur Wiederherstellung menschlicher Würde“ gesprochen.
In The Rebels Clinic. The Revolutionary Lives of Frantz Fanon (2024) beschreibt Adam Shatz, Herausgeber der amerikanischen Edition der London Review of Books, Fanon als Eiferer mit einem Hang zur Ambivalenz, der schwarze Männer kritisierte, die Beziehungen mit weißen Frauen hatten, mit Marie-Josèphe Dublé aber eine Weiße heiratete und mit ihr einen Sohn zeugte. In Algerien richtete Fanons Hass sich auf die Klasse der herrschenden Besatzer, der er auf eine Weise selber angehörte. Anstatt in den bewaffneten Kampf zu ziehen, blieb er in der Klinik, ging dann nach Tunesien.
Sicherlich ist Frantz Fanon ein Vorläufer des heutigen Wokismus, der die bürgerlichen westlichen Gesellschaften mit der materiellen und ideologischen Ausbeutung von indigenen Völkern und people of color gleichsetzt. Doch für die Zeit nach Gewalt und Freiheitskampf träumte Fanon von einer Gesellschaft universaler Werte, in der Kolonisator und Opfer Vergangenes vergangen sein lassen und „Hand in Hand“ eine bessere Zukunft schaffen. In „Die Verdammten der Erde“ schreibt er: „Nein, wir wollen niemanden einholen. Aber wir wollen die ganze Zeit, Tag und Nacht, in Gesellschaft des Menschen marschieren, in Gesellschaft aller Menschen. Es kommt darauf an, den Zug nicht auseinanderzuziehen.” Vom ewigen anklagenden oder selbstkasteienden Blick zurück hielt Fanon nichts, von Identitätspolitik hätte er noch weniger gehalten, und schrieb in Schwarze Haut, weiße Masken:
„Ich, ein Farbiger, habe nicht das Recht, zu ergründen, inwiefern meine Rasse einer anderen Rasse überlegen oder unterlegen ist. Ich ein Farbiger, habe nicht das Recht, mir zu wünschen, dass sich beim Weißen ein Schuldgefühl ob der Vergangenheit meiner Rasse herauskristallisiert.... Es gibt keine schwarze Mission. Es gibt keine weiße Bürde. Der Neger ist nicht. Ebenso wenig der Weiße. Beide müssen wir die unmenschlichen Wege unserer Vorfahren verlassen, damit eine wirkliche Kommunikation entstehen kann. Ich bin nicht Sklave der Versklavung, die meine Väter entmenschlicht hat.“
Gegenüber der Idee eines globalen Südens, der im Namen vergangenen Unrechts spricht, zeigte er sich misstrauisch und besorgt. Solch ein Süden laufe Gefahr, zu einer elitären, sich antagonistisch weiter am Westen ausrichtenden, chauvinistischen und letztendlich rassistischen „leeren Hülse“ zu werden.
Sarah Pines ist in Bonn und im Sauerland aufgewachsen, hat in Köln und Stanford Literaturwissenschaften studiert und in Düsseldorf mit einer Arbeit über den Dichter Charles Baudelaire promoviert. Sie lebt in New York und schreibt als freie Autorin für die Gesellschaftsressorts von Die Welt und Die Zeit. Beim Schöffling Verlag erschien 2022 ihr erster Geschichtenband Damenbart, 2024 erschien ihr erster Roman Der Drahtzieher im Diogenes-Verlag.
Literatur
Cherki, Alice: Frantz Fanon. Ein Porträt, Hamburg: Edition Nautilus, 2024.
Fanon, Frantz: Schwarze Haut, weiße Masken, Wien: Verlag Turia + Kant, 2013.
Fanon, Frantz: Die Verdammten dieser Erde, Hamburg: Reinbeck, 1969.
Shatz, Adam: The Rebels Clinic. The Revolutionary Lives of Frantz Fanon, Macmillan, 2024.
Anmerkungen und Verweise
1. Vgl. https://www.youtube.com/watch?v=amGyIqIBzEk (letzter Abruf: 08.01.2025).
2. Vgl. https://www.slowfood.com/campaigns/decolonize-your-food/ (letzter Abruf: 08.01.2025) und https://www.womanlymag.com/issue-no-6/decolonizing-food-an-antidote-to-oppression (letzter Abruf: 08.01.2025).
3. Vgl. https://www.nytimes.com/2024/11/26/climate/climate-policy-indigenous-peoples.html?searchResultPosition=2 (letzter Abruf: 08.01.2025) und https://cals.cornell.edu/radical-relationality-writing-against-climate-and-gender-violence (letzter Abruf: 08.01.2025)
4. Vgl. https://info.primarycare.hms.harvard.edu/perspectives/articles/decolonizing-practice-of-clinical-psychology-in-the-global-south (letzter Abruf: 08.01.2025).
5. Laut einer Studie von Amnesty International gilt knapp eine halbe Milliarde Menschen als „indigen“. Amnesty International betont, dass es dabei in erster Linie auf die „self-identity“ ankomme, vgl. https://www.amnesty.org/en/what-we-do/indigenous-peoples/ (letzter Abruf: 08.01.2025).
6. Vgl. https://www.nyc.gov/office-of-the-mayor/news/851-24/transcript-mayor-adams-hosts-reception-celebrate-native-american-heritage#/0 (letzter Abruf: 08.01.2025).
7. Vgl. https://www.nytimes.com/2024/10/09/nyregion/columbia-pro-palestinian-group-hamas.html (letzter Abruf: 08.01.2025).
8. Vgl. https://www.compactmag.com/article/the-crisis-of-therapeutic-decolonization/ (letzter Abruf: 08.01.2025).
9. Seit der ersten Wahl Donald Trumps zum US-Präsidenten im Jahr 2016 und seit #MeToo haben Universitäten der Ivy League und der kalifornischen Westküste eine neue Politik in Gang gesetzt, die Druck auf Lehrende ausübt. Ziel war und ist die bedingungslose Vielfalt, die Reinigung von Campussen und Lehrplänen von Personen, Worten, Ideen und Themen, die die herrschende Klasse (weiß, männlich, heterosexuell) repräsentieren. Das DIE-Gebot bezeichnet in diesem Zusammenhang die Verpflichtung zu Diversität, Gleichheit und Inklusion an Arbeitsplätzen, die in aufwendigen Bewerbungsschreiben und öffentlichen Briefen kundgetan werden muss und die die Fakultäten spaltet, Kollegen gegeneinander aufbringt und eigentlich qualifizierten Akademikern, die im Verfassen solcher Statements schlichtweg nicht versiert sind, weil sie ideologische Bekennerschriften nicht gut formulieren können, und nicht, weil sie rassistisch sind, um Aufstiegschancen bringt.
10. Vgl. Sonnleitner, Michael W.: „Of Logic and Liberation. Frantz Fanon on Terrorism“. In: Journal of Black Studies, Volume 17, Band 3, März 1987, S. 287–304.
11. Vgl. https://lareviewofbooks.org/article/the-us-academy-and-the-provincialization-of-fanon/ (letzter Abruf: 08.01.2025).
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