Ungeeigneter Vorschlag der Wahlrechtskommission
Die Wahlrechtskommission hat Eckpunkte vorgelegt, wie das Wahlrecht zum Bundestag verändert werden soll.[1] Die Vorschläge sollen Ausgleichsmandate abschaffen und die Sollgröße von 598 Abgeordneten garantieren. Zwei Vorschläge dürften die Wahl für viele Wahlberechtigte unverständlicher machen: die „Ersatzstimme“ und die Vergabe von Direktmandaten nach der Zweitstimmendeckung, also an Direktkandidatinnen und -kandidaten, die nicht die meisten Stimmen in einem Wahlkreis erhalten haben. Für eine legitime Wahl, der die Menschen vertrauen, muss die Stimmabgabe einfach und die Übersetzung der Ergebnisse in Mandate nachvollziehbar sein.
Ersatzstimme macht Wahlrecht noch komplizierter
Die Ersatzstimme macht die Stimmabgabe noch komplizierter, als sie derzeit ist. Als dritte Stimme wird sie die Umsetzung der Wahlintentionen in die entsprechenden Kreuze auf dem Wahlzettel erschweren. Schon die Bedeutung der Erst- und Zweitstimme im derzeitigen Wahlrecht versteht nur rund die Hälfte. Nach Ergebnissen der German Longitudinal Election Study (GLES) wussten vor der Bundestagswahl 2021 nur 53 Prozent, dass die Zweitstimme für die Sitzverteilung ausschlaggebend ist. Nach der Wahl waren es mit 55 Prozent genauso wenig.[2] Wahlkampf, Wahlberichterstattung und der Wahlakt selbst erhöhen das Wissen um Erst- und Zweitstimme kaum. Bei einer nicht-repräsentativen Umfrage der Konrad-Adenauer-Stiftung im Jahr 2018 konnten viele nicht die Bedeutung von Erst- und Zweitstimme erklären. „Ich habe Linke und AfD gewählt, wobei ich die AfD nur im regionalen Kreis gewählt habe, weil ich nicht wollte, dass die in den Bundestag reinkommen. (…) Erststimme Linke, Zweitstimme AfD“ (Wählerin aus Rostock).[3]
Eine Ersatzstimme macht die Stimmabgabe noch einmal komplizierter. Beklagt wird vielfach eine Wahlabstinenz von Menschen mit weniger politischen Kenntnissen und politischem Interesse. Aber gerade dieser Personengruppe wird mit einem komplizierten Wahlverfahren die Teilnahme erschwert.
Zweitstimmendeckung macht Vergabe von Direktmandaten unverständlich
Die Vergabe von Direktmandaten abhängig von der Zweitstimmendeckung macht auch den Weg vom Wahlergebnis zur Mandatserteilung schwer verständlich. Die Nachvollziehbarkeit der Ergebnisse geht verloren. Derzeit ist die Übersetzung des Ergebnisses in Mandate einfach. Die Parteien erhalten insgesamt den Anteil von Sitzen, der ihrem Zweitstimmenanteil entspricht. Im Wahlkreis gilt die Mehrheitswahl. Wie bei einem Wettlauf gewinnt die Person, die als erste durchs Ziel kommt. Dieser Sieg ist unabhängig davon, ob Weltrekord gelaufen wurde oder die Zeit im Vergleich zu anderen Rennen nicht sehr schnell war.
Die konkrete Mandatserteilung ist auch im jetzigen Wahlsystem mit Landeslisten, Ausgleichsmandaten und dem Auszählungsverfahren nach Sainte-Laguë/Schepers nicht einfach. Einfach sind aber die Grundprinzipien, und das Ergebnis der Zuteilung entspricht der Intuition.
Die Erteilung von Direktmandaten in Abhängigkeit von einer Zweitstimmendeckung widerspricht der Intuition. In manchen Fällen ist nicht die Person mit den meisten Stimmen direkt gewählt, sondern eine Person, die weniger Stimmen bekommen hat. Leicht verständlich ist das nicht.
Vertrauen in die Wahl von großer Bedeutung
Für das Demokratievertrauen ist das Vertrauen in den Wahlakt von großer Bedeutung. Aktuell besitzt der Wahlvorgang in den Augen der Wahlberechtigten eine hohe Integrität. Dieses Vertrauen ist umso höher, je besser sich die Menschen mit dem Wahlakt auskennen.[4] Eine Wahlrechtsreform darf dieses Vertrauen nicht verspielen. Die Wahlrechtskommission formuliert selbst: „Das Wahlrecht sollte nachvollziehbar und verständlich sein.“ Eine Ersatzstimme und die Zuteilung von Direktmandaten in Abhängigkeit von der Zweitstimmendeckung werden diesem Anspruch nicht gerecht.
[1] Deutscher Bundestag: Zwischenbericht der Kommission zur Reform des Wahlrechts und zur Modernisierung der Parlamentsarbeit – Eckpunkte.
[2] „Bei der Bundestagswahl haben Sie ja zwei Stimmen, eine Erststimme und eine Zweitstimme. Wie ist das eigentlich, welche der beiden Stimmen ist ausschlaggebend für die Sitzverteilung im Bundestag?“ Quelle: GLES, 2022: ZA7702 V1.0.0 GESIS, Köln.
[3] Neu, Viola/Roose, Jochen (2019): „Denn sie wissen nicht, was sie tun.“ Stimmzettel zur Bundestagswahl müssen verständlicher gestaltet werden. Konrad-Adenauer-Stiftung, Berlin.
[4] Vgl. Etzel, Maximilian (2022): Wie groß war das Vertrauen? Zur Elektoralen Integrität bei der Bundestagswahl 2021. In: Easy Social Sciences 67: 9-18.
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