Zu den bemerkenswertesten Kuriositäten der Gegenwart gehören Menschen, die mit der Parole „Queers for Palestine“ oder „Gays for Gaza“ auf antiisraelischen Demonstrationen erscheinen. In Gaza herrscht mit der Hamas eine islamistische Miliz, die eine strikt patriarchalische Geschlechterordnung vertritt und homosexuelle Handlungen mit Gefängnisstrafen ahndet. Im Westjordanland ist die Gesetzgebung liberaler, dennoch leiden Homosexuelle unter massiver Diskriminierung, werden mit Gewalt bis hin zum Mord bedroht und fliehen nach Israel, wo sie in Freiheit leben können. Die propalästinensischen Demonstranten möchten dies jedoch nicht gelten lassen und werfen Israel pinkwashing vor. Die Regierung werbe mit sexuellem Liberalismus, um Kritik an seiner Besatzungspolitik und die Diskriminierung der Palästinenser abzuwehren, heißt es.[i]
Zynische Solidarität und widersprüchliche Relativierung von Terror und Gewalt
Das Beispiel zeigt eine absurd anmutende Solidarisierung sexueller Minderheiten mit Gruppierungen, die ihnen intrinsisch feindlich gegenüberstehen bei gleichzeitiger Verurteilung derjenigen, die sie akzeptieren und wertschätzen. Dass es sich bei den Demonstranten keineswegs um Verwirrte handelt, die einer selbstgebastelten Irrlehre aufsitzen, wird daran deutlich, dass ähnliche Positionierungen auch von international anerkannten Wissenschaftlern vertreten werden. Eine von ihnen ist Judith Butler, die mit ihrer Monographie Gender trouble. Feminism and the Subversion of Identity (1990) den sogenannten Queerfeminismus begründet hat, der die biologische Zweigeschlechtlichkeit als „heteronormatives“ Konstrukt ablehnt.[ii] Wer diese Vorstellungen kritisiert, wird von Butler als transphob verurteilt. Ebenso beschimpft sie regelmäßig Frauenrechtlerinnen, die die Unterdrückung von Frauen in der islamisch geprägten Welt beanstanden. Zur Vollverschleierung muslimischer Frauen hat sie sich positiv geäußert, weil sie darin eine Abwehrhaltung gegen Zwangsverwestlichung wahrzunehmen glaubt.[iii] Die islamistischen Milizen Hisbollah und Hamas hält sie für legitime Widerstandsorganisationen, die Massaker des 7. Oktober 2023 hat sie öffentlich relativiert sowie die Vergewaltigung israelischer Frauen bezweifelt. Dass die sich selbst als nicht-binär bezeichnende, lesbisch lebende jüdische Feministin unter islamistischer Herrschaft nicht lange überleben würde, scheint ihr nicht bewusst zu sein.
Islamisten als Allianzpartner im Kampf für eine gerechte Welt?
Man könnte hinter dieser kognitiven Dissonanz das Ergebnis eines Lebens im realitätsfernen akademischen Elfenbeinturm vermuten, doch dies reicht nicht aus, um zu verstehen, warum Butler und ihre Adepten so beharrlich ausblenden, dass Islamismus in extremer Weise frauen- und queerfeindlich ist. Es ist daher notwendig, sich mit der Ideologie zu befassen, die diese Wahrnehmungsverzerrung möglich macht. Es handelt sich um sie sogenannte postkoloniale Theorie, die wiederum andere populäre linke Theorien wie die Critical Race Theory, die Social Justice Theory oder den Intersektionalen Feminismus einschließt. Obgleich sie kein hermetisch abgeschlossenes Gedankengebäude darstellt, lassen sich Grundmerkmale identifizieren, die dazu geführt haben, dass Islamisten zu Allianzpartnern beim Kampf für eine gerechte Welt stilisiert und jegliche Kritik als islamophob oder gar als rassistisch abgewehrt werden.
Die postkoloniale Theorie basiert im Wesentlichen auf einem binären Weltbild, in dem die Täter- und Opferpositionen klar verteilt sind. Vereinfacht geht es um den „Westen“ als Täter und den sogenannten „globalen Süden“ als Opfer. Für die Kategorisierung spielen aber nicht nur Weltregionen, sondern auch Hautfarben, Ethnien, Kulturen, sexuelle Identitäten und Religionen eine Rolle. Attribute wie weiß, männlich, christlich und heterosexuell werden zur Täterschreibung herangezogen, während Opfer weiblich, muslimisch, nicht weiß, homo- oder transsexuell sind. Wer einer Minderheit angehört, gilt als prädestiniert für einen Opferstatus, wer zur Mehrheitsgesellschaft gehört, wird als potentieller Täter markiert.
Von der antikolonialen zur postkolonialen Theorie
Die Ursprünge des Postkolonialismus liegen in der antikolonialen Theorie, dem akademischen Überbau der antikolonialen Bewegung. Hier war die Ablehnung des Westens konstitutiv. Dennoch studierten und lehrten viele Menschen aus den Kolonien, die später als wegweisende Theoretiker rezipiert wurden, in westlichen Ländern, die dadurch zu Zentren antikolonialer und – nach dem Ende des Kolonialismus – auch postkolonialer Theoriebildung wurden. Etliche der antikolonialen Führungspersönlichkeiten wurden von der Sowjetunion, die sich trotz ihrer eigenen kolonialen Operationen in Sibirien und in Zentralasien als antikoloniale Macht präsentierte, in die Komintern integriert. Antikoloniales Gedankengut verband sich unter ihrem Einfluss mit antikapitalistischen Ideen und viele der antikolonialen Denker agierten folgerichtig innerhalb einer kommunistischen Logik. Dies betrifft beispielsweise die auf Martinique geborenen Autoren Aimé Césaire (1913-2008) und Frantz Fanon (1925-1961), deren Werke innerhalb der westlichen Linken enthusiastisch rezipiert wurden. Der französische Intellektuelle Jean-Paul Sartre verfasste ein Vorwort zu Fanons wegweisender Monographie Die Verdammten dieser Erde (1961), die bereits im Titel Bezug auf die Internationale, die Hymne der internationalen sozialistischen Bewegung, nahm. Sartre war fasziniert von Fanons Ausführungen zu revolutionärer Gewalt, die er als entgiftend und egalisierend feierte. Europäer müssten von Subjekten zu Objekten der Geschichte werden, selbst einen „Eingeborenenstatus“ erhalten, gedemütigt und krank vor Angst sein, schrieb er. Dies sei die Katharsis, aus der eine neue Welt entstehe.[iv]
Sartre gehörte zu den westlichen Intellektuellen, die der eigenen Gesellschaft in nahezu schizophrener Ambivalenz gegenüberstanden. Auf der einen Seite genoss er die zahlreichen Vorteile eines freien Lebens, das ihm nur die urbane französische Gesellschaft bieten konnte, auf der anderen Seite erhoffte er ihren Niedergang und romantisierte antiwestliche Strömungen. Selbst die Errichtung der islamistischen Diktatur im Iran, die der 1978 aus seinem Pariser Exil angereiste Ayatollah Khomeini errichtete, fand anfangs noch seine Zustimmung. Damit war er nicht allein. Auch Michel Foucault, der selbst bekennend homosexuell lebte und den Iran 1978 bereiste, äußerte sich ausnehmend positiv über die „politische Spiritualität“ der Bevölkerung, die vom Wunsch nach einem islamischen Staat beseelt war. Foucault war von Ernst Bloch beeinflusst, der religiös-politische Bewegungen als Hoffnungen der ersehnten revolutionären Umwälzungen interpretierte.[v] Die Ernüchterung kam, nachdem Khomeini begann, iranische Kommunisten zu verfolgen, doch innerhalb der globalen Linken blieb die Romantisierung des Islamismus als Partner im Kampf gegen den „westlichen Imperialismus“ bestehen.
Antiimperialistisch und antikolonial: Mit dem Islam im Widerstand gegen eine politische und kulturelle westliche Dominanz
Innerhalb der islamischen Welt bestand dafür ein Resonanzraum. Im Iran war es der Schriftsteller Jalal Al-e Ahmad (1923-1969), der den Islam zur wichtigsten Quelle des Widerstands gegen eine politische und kulturelle westliche Dominanz erklärte. Sein Buch Gharbzadegi (1982), der persische Begriff lässt sich am besten mit „Vergiftung durch den Westen“ übersetzen, findet bis heute in der internationalen akademischen Welt weiten Anklang.[vi] Eskandar Sadeghi-Boroujerdi von der London University schrieb in einem wissenschaftlichen Aufsatz, das Werk biete wichtige Einblicke in die räuberische Form des kolonialen Kapitalismus und der darauf beruhenden Weltökonomie.[vii] Khalil Mahmoodi von der Islamic Azad University und Esmaeil Zeiny Jelodar von der University Kebangsaan Malaysia betonten vor allem die Korrumpierbarkeit nichtwestlicher Intellektueller durch westlich-imperiale Ideologien.[viii] Jalal Al-e Ahmad ist ein Beispiel unter vielen Autoren Asiens und Afrikas, die vom politischen Islam eine Stärkung des antikolonialen beziehungsweise antiimperialistischen Widerstands erhofften. Dafür gab es durchaus gute Gründe, denn von Indonesien bis nach Ägypten waren muslimische Organisationen oft die zentralen Treiber dieses Widerstands. Islamistische Vordenker wie Abu A’la Maududi (1903–1979) und Hasan al-Banna (1906–1949) legten detaillierte Konzepte für postkoloniale normative Ordnungen vor, die sie allesamt nur in islamischen Staaten verwirklicht sehen wollten. Bis auf den heutigen Tag berufen sich auch islamische Extremisten in Deutschland auf antikoloniale Erzählungen. Eine von ihnen ist die Gruppe „Generation Islam“, die durch spektakuläre Demonstrationen für ein Kalifat im Nahen Osten Aufmerksamkeit erregte.
Edward Saids Orientalismusthese
Postkoloniale Theoretiker äußern sich gewöhnlich nicht zu solchen Zukunftsszenarien in der islamischen Welt, was auch daran liegt, dass sie sich in erster Linie mit dem Westen befassen und ihre Wirkungsstätten westliche Universitäten sind. Einer von ihnen war der palästinensisch-stämmige Literaturwissenschaftler Edward E. Said (1935-2003), der eine atemberaubende Karriere in den wichtigsten Eliteuniversitäten der USA absolvierte und 1978 eine Monographie mit dem Titel Orientalismus verfasste. Die darin vertretene These war schlicht: Der Westen projiziere die Negation seines eigenen überhöhten Selbst auf den Orient, werte letzteren damit ab und nutze diese Abwertung, um Kolonialismus und Imperialismus zu rechtfertigen. Der Orientalismus, so schreibt er, sei „ein westlicher Stil, den Orient zu beherrschen und zu unterdrücken“.[ix] Obgleich der Islam nur am Rande behandelt wurde und Said später bedauerte, dass sich Islamisten auf ihn beriefen, wurde die Publikation vornehmlich für die Konstruktion eines Narrativs verwendet, bei der Muslime als globale Opfer eines Westens verstanden wurden.
Die große Opfererzählung: Europäischer Kolonialismus und die Ausblendung muslimischen Sklavenhandels
In Deutschland wurde diese Opfererzählung unter anderem von der Berliner Rassismusforscherin Iman Attia zu einer groß angelegten Neuinterpretation der Weltgeschichte ausbuchstabiert, die in eine Periode vor und eine Periode nach der europäischen Kolonisation unterteilt wird. Als Schicksalsdatum eines Prozesses der Unterwerfung der Welt unter den Westen nennt sie das Jahr 1492, in dem Kolumbus den amerikanischen Kontinent erreichte.[x] Mit dieser Interpretation befindet sie sich im Mainstream des postkolonialen Diskurses. Der Umstand, dass europäische Länder ab dem 15. Jahrhundert außereuropäische Herrschaftsräume errichteten, wird als ultimativer Wendepunkt der Weltgeschichte zum Negativen gedeutet. Dass nahezu zeitgleich die kriegerische Expansion der Osmanen in den Okzident hinein stattfand, wird dabei ebenso ausgeblendet wie die Eroberungen islamischer Führer seit dem 7. Jahrhundert, die zur Besetzung weiter Teile Südeuropas führten. Dem westlichen Kolonialismus werden darüber hinaus, streng nach Saids Vorgabe, besonders negative Attribute zugschrieben. Dazu gehören an erster Stelle Rassismus, aber auch die Praxis der Sklaverei. Empirisch betrachtet sind beide allerdings kein Alleinstellungsmerkmal des Westens. Anders als von postkolonialen Autoren suggeriert, so der Historiker Egon Flaig, sei der muslimische Sklavenhandel das größte und langlebigste Sklavensystem der Welt gewesen. Auch waren es europäische Staaten, die die Sklaverei schließlich abschafften.[xi] In der postkolonialen Theorie werden solche Befunde allerdings ebenso wenig zur Kenntnis genommen wie Liberalisierungen innerhalb der westlichen Welt. Minderheiten haben im Verlauf des 20. und 21. Jahrhunderts signifikante Erfolge beim Kampf um Anerkennung erzielt, und Diskriminierungen werden von der überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung abgelehnt. Dennoch beharrt die postkoloniale Theorie darauf, dass die rassistisch-koloniale Prägung innerhalb westlicher Gesellschaften ungebrochen anhält und geht sogar so weit, einen an die weiße Hautfarbe gebundenen intrinsischen und damit auch unüberwindbaren Rassismus zu behaupten.[xii] Den stets weißen Tätern stehen dabei die sogenannten People of Color gegenüber, zu denen auch Muslime gezählt werden.
Die Konjunktur von vermeintlicher „Islamophobie“ und „antimuslimischem Rassismus“
Wichtiger noch für die Viktimisierung der Muslime als diese fragwürdige Rassismuskonstruktion ist ein auf den britischen Soziologe Stuart Hall zurückgehender Ansatz, der auf die Kategorie „Kultur“ zielt und als „Kulturalisierung des Rassismus“ oder „Rassismus ohne Rassen“ bekannt wurde.[xiii] Gemeint ist, dass Menschen nichtwestlicher Gesellschaften aufgrund ihrer kulturellen oder religiösen Traditionen negative Eigenschaften zugeschrieben werden, die sie als minderwertig stigmatisieren. Hall bezog sich auf nichtwestliche Migranten in westlichen Gesellschaften, die – in Anlehnung an Said – das Andere der dominanten westlichen Kultur darstellten. Dabei hatte er nicht nur Muslime im Blick. Dass Halls These dennoch primär herangezogen wird, um Muslime als priorisierte Andere des Westens zu definieren, geht auf gut organisierte muslimische Interessensverbände sowie die große Anzahl muslimischer Wissenschaftler in Großbritannien zurück, die im Rahmen wissenschaftlicher Kooperationen aus islamischen Ländern finanziert werden. Ein Beispiel ist die Stiftungsprofessur für Islamwissenschaften an der Oxford University, die mit Unterstützung Katars für den Enkel des Muslimbrudergründers Tariq Ramadam eingerichtet wurde.
Monetäre Einflussnahmen, unter anderem durch Katar, lassen sich auch für die USA nachweisen. Das spiegelt sich unübersehbar in Forschungsprojekten wider. Seit den 1990er-Jahren haben in angelsächsischen Hochschulen Arbeiten, die sich mit „Islamophobie“ oder „antimuslimischem Rassismus“ beschäftigen, Konjunktur. Beide Begriffe sind denkbar vage. Der britische Runnymede Trust veröffentlichte 1997 ein Papier, das Generalisierungen des Islam oder die Idee eines Clash of civilisations, wie sie der amerikanische Politikwissenschaftler Samuel P. Huntington entwickelt hatte,[xiv] als islamophobisch charakterisierte.[xv] Islamophobisch sei es weiterhin, negative Phänomene mit dem Islam in Verbindung zu bringen. Zu den erstgenannten Kriterien ist zu sagen, dass auch Muslime mit großer Selbstverständlichkeit von einer „wahren“ Religion ausgehen und zudem der Ansicht sind, dass sich Muslime und der Westen in einem Kampf der Kulturen befinden. Das dritte Kriterium wird gewöhnlich genutzt, um Kritik an Muslimen oder dem Islam als islamophobisch abzuwehren. In Deutschland findet es sich in dem 2023 erschienen Bericht einer „Unabhängigen Expertenkommission Muslimfeindlichkeit“, der vom Bundesministerium des Innern und für Heimat (BMI) herausgegeben wurde. Muslime würden zu häufig mit Gewalt und Rückständigkeit assoziiert, liest man dort, ihnen würden patriarchalische Geschlechterverhältnisse und mangelnde Integrationsbereitschaft unterstellt. Die (falschen) Zuschreibungen seien in den als rassistisch klassifizierten Strukturen der Gesellschaft verankert. Als Maßnahmen gegen diesen „antimuslimischen Rassismus“ empfahlen die Autoren Zensur- und Kontrolleinrichtungen im Bildungs- und Kulturbereich und in den Medien.[xvi]
International unter Druck: Islamistische Angriffe auf die Presse-, Meinungs- und Wissenschaftsfreiheit
Ein anderes Beispiel ist der European Islamophobia Report, der seit 2015 von Farid Hafez und Enes Bayrakli herausgegeben wird. Er stellt ein Register von Personen dar, die als islamophobisch bezeichnet werden. In der Ausgabe des Jahres 2018 löste er internationalen Protest aus, weil neben islamfeindlichen Rechtsextremen auch liberale Muslime wie die deutsche Anwältin Seyran Ates und Mitglieder der türkischen Opposition aufgelistet wurden. Dass der Bericht in Zusammenarbeit mit der Erdogan-nahen SETA-Stiftung herausgegeben wurde, zeigte, welche Interessen mit dem Report vertreten wurden. Der türkische Präsident ist bekannt dafür, dem Westen Islamophobie vorzuwerfen und Muslime zu einem gemeinsamen Vorgehen dagegen aufzurufen. Ähnliches gilt für die iranische Führung und die „Organisation der Islamischen Kooperation“, der 57 islamische Staaten angehören. In einem ihrer Berichte heißt es, Islamophobie umfasse auch die Beleidigung heiliger islamischer Symbole und verehrter Persönlichkeiten.[xvii] Auf dieser Grundlage lässt sich problemlos Gewalt gegen Personen rechtfertigen, die angeblich den Islam beleidigen. Tatsächlich wurden die Fatwa gegen Salman Rushdie, die Bedrohungen des dänischen Karikaturisten Kurt Westergaard, der Anschlag auf die Redaktion des Satiremagazin Charlie Hebdo und die Ermordung des Lehrers Samuel Paty sowohl von Islamisten als auch von Vertretern der politischen Linken mit dem Verweis auf die Islamfeindlichkeit der Betroffenen entschuldigt. Der französische Philosoph Pascal Bruckner schreibt dazu, dass Linke und Islamisten vom gleichen Geist der Abrechnung mit dem bestehenden System beseelt seien.[xviii] In den USA dominierten Rechtfertigungen des Islamismus bereits nach den Anschlägen des 11. September 2001 den politischen Diskurs innerhalb der akademischen Linken. Die Gewalt der Dschihadisten wurde dabei als Folge westlicher Dominanz interpretiert.[xix]
In westlichen Universitäten gelten Muslime mittlerweile als besonders vulnerable und daher schützenswerte Gruppe. Dozenten sind gehalten, darauf zu achten, dass sie sich wohlfühlen und keinesfalls – auch nicht unabsichtlich – beleidigt werden. Die Kunsthistorikerin Erika Lopez Prater erlebte an der Hamline University in Minnesota, dass Verstöße gegen diese Regel zu ernsten disziplinarischen Konsequenzen führen können. Sie hatte in einer Vorlesungsreihe zur globalen Kunstgeschichte persische Miniaturen gezeigt, die Mohammed abbildeten, ihren Studenten jedoch die Teilnahme freigestellt. Eine nicht anwesende muslimische Studentin reklamierte daraufhin dennoch eine Beleidigung ihrer Religion und entfachte eine über die Hochschule hinausgehende Kampagne gegen die Professorin. Nachdem diese öffentlich als Islamfeindin verurteilt worden war, kündigte die Hochschulleitung ihr Arbeitsverhältnis. Solche Beispiele schüren Angst und führen zu Vermeidungshaltungen. Themen, die von Muslimen abgelehnt werden könnten, werden kaum noch erforscht. Dazu gehören islamischer Extremismus, Gewalt in muslimischen Communities, Clankriminalität oder muslimischer Antisemitismus. Selbst an den Genderlehrstühlen schweigt man über islamisch begründete Frauenfeindlichkeit, häusliche Gewalt im Namen der Ehre und erzwungene Ehen. Stattdessen füllen Monographien die Bücherregale, in denen Kopftücher, Gesichtsschleier und blickdichte bodenlange Stoffe als Zeichen des weiblichen Empowerments gefeiert werden. Das Kopftuchverbot in der vormals laizistischen Türkei oder in Frankreich gilt postkolonialen Feministinnen als Zeichen der Islamophobie.
Identitätspolitik mit Opferhierarchisierungen
Die Ursache für diese Ausblendung von Frauenrechtsverletzungen liegt in den Anfängen des Feminismus der 1960er-Jahre. Damals monierten schwarze Frauen in den USA die zentrale Kampflinie „Männer versus Frauen“ und bezichtigten weiße Feministinnen, aufgrund ihrer Hautfarbe auf der Seite der Unterdrücker zu stehen. Um eine Spaltung zu verhindern, wurden die Kategorien Race und Class, später auch Religion (Islam) und sexuelle Orientierung in die Liste der Unterdrückungsmerkmale aufgenommen. Unter dem Einfluss der Critical Race Theorie und des Postkolonialismus wurde Feminismus intersektional.[xx] Der Begriff bezeichnet die Idee einer hierarchischen Staffelung von Diskriminierungen, wobei eine Addition von Diskriminierungsmarkern das Gesamtergebnis verstärken soll. Eine schwarze Frau oder eine Muslimin ist dieser Logik zufolge stärker diskriminiert als eine weiße Frau, eine schwarze Muslimin ist unterdrückter als eine weiße Muslimin. Diskriminierungen gelten im Umkehrschluss aber auch als Ausgangspunkte von Widerstand und man nimmt an, dass diskriminierte Gruppen erfolgreicher sind, wenn sie sich zusammenschließen. Und dabei kommt wieder die Parole „Queers for Palestine“ ins Spiel. Postkoloniale Akteure wissen durchaus, dass Menschen unterdrückt werden, die sich in Gaza einer islamistischen Gendernorm verweigern, doch sie gehen davon aus, dass der Aktivismus der queeren Bewegung und der palästinensische Kampf gegen Israel letztendlich ein gemeinsames Ziel haben.[xxi] Ein Sieg über den gemeinsamen Feind, den heteronormativ und rassistisch geprägten Westen, würde letztendlich, so die Utopie, zu einer allgemeinen Befreiung aller Unterdrückten führen.
Prof. Dr. Susanne Schröter ist Ethnologin und Leiterin des Frankfurter Forschungszentrums Globaler Islam (FFGI) an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main, Vorstandsmitglied des Deutschen Orient-Instituts und Mitglied im Senat der Deutschen Nationalstiftung.
Literatur und Anmerkungen
[i] Vgl. https://forgeorganizing.org/article/pinkwashing-101-how-israel-turned-gay-pride-occasion-oppression/ (zuletzt abgerufen am 5. Februar 2025).
[ii] Vgl. Butler, Judith: Gender trouble. Feminism and the Subversion of Identity. London: Routledge, 1990.
[iii] Vgl. Butler, Judith: Krieg und Affekt. Zürich: Diaphanes, 2009.
[iv] Vgl. Fanon, Frantz: Schwarze Haut, weiße Masken. Frankfurt: Suhrkamp, 1980, S. 26. Zu Frantz Fanon als Geburtshelfer des Postkolonialismus und der Legitimation von Gewalt als politisches Mittel auch vgl. Pines, Sarah: Dekolonisierung und Gewalt: Postkoloniale Studien in den USA, Konrad-Adenauer-Stiftung, 4. Februar 2025, (zuletzt abgerufen am 5. Februar 2025).
[v] Vgl. Sarasin, Philipp: Zeitenwende. Michel Foucault und die iranische Revolution. Universität Zürich, 2019, https://www.zora.uzh.ch/id/eprint/171230/1/sarasin_zeitenwende_michel_foucault_iranische_revolution_2019.pdf (letzter Abruf: 27.1.2025).
[vi] Al-e Ahmad, Jalal: Occidentosis. A plague from the West. Berkeley: Mizan Press, 1984.
[vii] Sadeghi-Boroujerdi, Eskandar: “Gharzadegi, colonial capitalism and the racial state in Iran”. In: Postcolonial Studies 24 (2), 2021, S. 173-194.
[viii] Mahmoodi, Khalil/Esmaeil Zeiny Jelodar: “Orientalized from within. Modernity and modern anti-imperial Iranian intellectual Gharbzadegi and the roots of mental wretchedness”. In: Asian Culture and History 3 (2), 2011, S. 19-28.
[ix] Vgl. Said, Edward W.: Orientalismus. Frankfurt: Fischer, 2009, S. 11.
[x] Attia, Iman: Unzumutbare Koexistenz. „Rassialisierungsprozesse von Muslimen und Musliminnen in historischer Perspektive“. In: Ucar, Bülent und Wassilis Kassis, Hg.: Antimuslimischer Rassismus und Islamfeindlichkeit. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2016, S. 125-140.
[xi] Vgl. Flaig, Egon: Weltgeschichte der Sklaverei. München: Beck, 2018, S. 199.
[xii] Vgl. DiAngelo, Robin: White fragility. Why it’s so hard for white people to talk about racism. Boston: Beacon Press, 2018.
[xiii] Hall, Stuart: Ideologie, Kultur, Rassismus. Hamburg: Argument Verlag, 2018.
[xiv] Vgl. Huntington, Samuel: The clash of civilizations and the remaking of world order. New York: Simon and Schuster, 1996.
[xv] Vgl. https://www.runnymedetrust.org/publications/islamophobia-a-challenge-for-us-all (letzter Abruf: 06.02.2025)
[xvi] Vgl. Unabhängige Expertenkommission Muslimfeindlichkeit: Muslimfeindlichkeit. Eine deutsche Bilanz. Berlin. BMI, 2023, S. 12.
[xvii] Vgl. https://www.oic-oci.org/upload/islamophobia/2022/14th_Annual_Report_on_Islamophobia_March_2022_r2.pdf (letzter Abruf: 06.02.2025)
[xviii] Vgl. Bruckner, Pascal: Der eingebildete Rassismus. Islamophobie und Schuld. Berlin: Klaus Bittermann, Edition Tiamat, 2020, S. 81.
[xix] Vgl. Calhoun, Craig et al: Understanding September 11. New York: New Press, 2002.
[xx] Vgl. Crenshaw, Kimberlé: „Demarginalizing the intersection of race and sex. A black feminist critique of antidiscrimination doctrine, feminist theory and antiracist politics”. In: University of Chicago Legal Forum (1989) 1, 1989, S. 138-167.
[xxi] Vgl. Atshan, Sa’ed: Queer Palestine and the empire of critique. Stanford: Stanford University Press, 2020.